Das Folgende ist eine Ergänzung auf diesen
Beitrag von mir sowie auf die intensive Diskussion (u.a.
Blogosphäre) der stark umstrittenen Studie zur Höhe des Regelsatzes, die von Friedrich Thießen und Christian Fischer an der TU Chemnitz vorgenommen wurde. Den längsten Kommentarstrang hierzu gibt es bei
Shifting Reality.
Kritik des Kapitels "Schlussfolgerungen" der Regelsatzstudie von Fischer/ThießenDie "Studie" von Fischer/Thießen schlussfolgert (Kapitelüberschrift: "Schlussfolgerungen"), überwiegend (!) ohne echten Bezug auf die gefundenen Ergebnisse:
Wie unsere Neuberechnungen (...) zeigen, liegt der Regelsatz der Sozialhilfe bereits leicht oberhalb des Satzes, der noch mit den festgelegten Zielen der Mindestsicherung kompatibel ist. Selbst die Hälfte davon wäre immer noch damit kompatibel.
1. Sozialhilfe-Regelsatz? Unpräziser Begriff.
2. Der Regelsatz liege "leicht oberhalb" der Notwendigkeiten des Zielkanons und zugleich sei aber sogar "die Hälfte" noch völlig kompatibel mit dem Zielkanon. Die Autoren argumentieren offenkundig sehr unpräzis, in diesem Fall womöglich aus (m.E. verständlicher) Feigheit.
Hier wäre Ehrlichkeit angebracht: Wenn eine Erhöhung vorgenommen wird, dann muss der die Maßnahme finanzierenden Mehrheit der Gesellschaft im Sinne des Sachverständigenrates mitgeteilt werden, welche Ziele damit verfolgt werden.
Das ist gaga. Die "Studie" hat sich an keiner Stelle damit beschäftigt, welche Ziele diejenigen verfolgen, welche eine Erhöhung des Regelsatzes für angemessen halten. Insofern verbieten sich u.a. Schlussfolgerungen in Bezug auf die "Ehrlichkeit".
Auf Basis der von der Gesellschaft derzeit formulierten Ziele ist eher ein Absenken der Mindestsicherung als ein Anstieg gerechtfertigt.
1. Redundanz (das Gesagte war bereits gesagt)
2. Hochgradig feige Formulierung. Die Autoren halten eine Halbierung der Regelsätze für vollauf gerechtfertigt. Das ist ja Kern der gefundenen bzw. behaupteten Ergebnisse.
Es ist kein Grund zu erkennen, die soziale Mindestsicherung in ihrer Höhe zu verändern, ohne zu formulieren, welche Ziele mit einer sozialen Mindestsicherung in veränderter Höhe verfolgt werden.
1. In der Untersuchung gehen die beiden Autoren nur ungenügend auf andere Untersuchungen ein - die von anderen Autoren vorgenommenen Begründungen werden nicht beachtet.
2. Da die beiden Autoren keine Gründe untersucht haben (bei jenen, die Erhöhungen fordern - z.B. aufgrund der Lage von Kindern und Schülern in HartzIV-Haushalten), verbieten sich in den "Schlussfolgerungen" Bewertungen ebendieser, zuvor
nicht untersuchten Begründungen.
Oftmals werden erhöhte Leistungen mit Sonderbedarfen begründet (Verderb von Lebensmitteln, höhere Kosten aufgrund nicht immer rationaler Entscheidungen, Übergrößen, Saisonartikel etc.). Hierin können tatsächlich Gründe für höhere Leistungen liegen.
Genau
das hatte die Autoren zuvor
vollständig ausgeschlossen. Die Schlussfolgerungen widersprechen an dieser Stelle den eigenen Ergebnissen, die u.a. behaupten, dass bei "sachgemäßer Lagerung" ein Lebensmittelverderb ausgeschlossen werde könne, auch im Fall von Billigobst/gemüse.
Wie aber anhand der Kategorie Lebensmittel gezeigt wurde, liegt der Regelsatz hier bereits um 100% über dem Existenzminimum (...)
1. Die Autoren rechnen hier falsch. Die richtige Zahl lautet: 94,1 Prozent. Im Übrigen muss auch im "Minimumfall" ein angemessenes
soziokulturelles Existenzminimum gesichert werden, und nicht nur ein Existenzminimum.
2. Bedeutende Positionen einer auch im Armutsfall normalen Lebensführung werden von Fischer/Thießen vollständig gestrichen. Sowohl im ermittelten "Minimumfall", als auch im "Maximumfall" sollen Regelsatz-Bezieher auf Versicherungsschutz, Telefonanschluss und Stromversorgung verzichten. Der letzte Punkt könnte als konsequent gewertet werden, weil die beiden Forscher auch die Ausstattung mit einem gebrauchten Computer (z.B. für Bewerbungsschreiben) für obsolet erachtet haben. Der
Lebensstil der Amish People mag faszinierend sein, aber für die Ermittlung der Höhe eines Regelsatzes taugen diese Vorstellungen nicht.
3. Etwas unbeholfen wirkt vor diesem Hintergrund die Kalkulation der beiden Wirschaftswissenschaftler, die im "Maximumfall" monatlich 27,20 € für die Nutzung von einem "Internetkaffee" (3 Stunden/Woche) vorsieht.
4. Die bundesweite Verallgemeinerung der Verhältnisse in Chemnitz ist fragwürdig, ebenso die rigide Ausklammerung von Saisoneffekten bei der Preiserhebung, welche zusätzlich daran zweifeln lassen, ob der "Minimumfall" an 12 Monaten im Jahr tatsächlich bedarfsdeckend ist.
5. Die Inflation zwischen 2005/2006 und 2008 hätte von den Autoren
unbedingt berücksichtigt werden müssen. Gerade hier hätten sich (u.a. bei Grundnahrungsmitteln und Energie) teils erhebliche Veränderungen ergeben. Wer für das Jahr 2008 in einer wissenschaftlichen Untersuchung über den Regelsatz gewichtige Aussagen vornehmen möchte, von dem kann als sorgfältig arbeitender Wissenschaftler auch verlangt werden, dass er die leicht erhältlichen Preise aus dem Jahr 2008 (zumindest stichprobenartig) berücksichtigt.
6. Die beiden Autoren konstruieren den Regelsatz-Bezieher als homo abnormus, der im Rest zur Bevölkerung stets gesund ist, nie Arztbesuch oder Medikamente benötigt, arbeitsfähig ist, und keine Materialien für Bewerbungen benötigt. Auch die Herabsetzung der durchschnittlichen Körpergröße (reduziert die Kalorienaufnahme um ca. 10 Prozent), sowie die diversen weiteren Sonderannahmen sind nicht dazu angetan, dass die von den Autoren errechneten Werte zulässige Folgerungen ermöglichen - in Bezug auf einen allgemein gültigen Regelsatz.
7. Im Übrigen bestehen bei Zusammenstellung der Warenkörbe und der Berechnung des "Minimumfalles" sehr erhebliche Zweifel daran, ob dieser noch mit den in der Fragestellung definierten Zielkanon übereinstimmt. Tatsächlich liegt beim "Minimumfall" der Autoren eine unzulässige Vermischung einer Berechnung eines
physischen Existenzminimums und einer Berechnung des soziokulturellen Existenzminimums vor.
8. Der Minimumfall wird von den Autoren implizit als eine Art Ballastexistenz dargestellt, deren soziokulturelles Leben im Wesentlichen auf Bibliotheksbesuche und das Sitzen auf einem einzelnen Stuhl (das Zuhause) beschränkt ist. Der von den Autoren konstruierte "Minimumfall" ist in vielfacher Hinsicht unzulässig, basiert auf extremen Verhaltensannahmen, untertreibt systematisch den tatsächlichen Bedarf und repräsentiert kein auf Dauer tragbares soziokulturelles Existenzminimum - den Autoren hätte dies auffallen müssen - und auch, dass sie selbst eklatant gegen ihr eigenes Untersuchungsdesign verstoßen.(...) und etwa auf der Höhe der Ausgaben, welche das untere Fünftel der Gesellschaft tätigt.
Die zutreffendere Formulierung wäre gewesen: "knapp unterhalb der Höhe der Ausgaben". Tatsächlich handelt sich hierbei um eine Unterschreitung um 4 Prozent (im Jahr 2005/2006), die insofern sogar noch stärker ins Gewicht fällt, weil die referenzierte EVS-Stichprobe einen überproportionalen Anteil Rentner enthält. Es ist zu vermuten, dass bei einer ausschließlichen Berücksichtigung von Personen zwischen 18-65 Jahren (gemäß den definierten Ausgangsbedingungen dieser Untersuchung) sich sogar ein "
deutich unterhalb der Ausgaben" ergäbe.
Das bedeutet, dass die Gesellschaft den Sozialleistungsempfängern in Bezug auf Lebensmittel nicht das Existenzminimum finanziert, sondern einen bestimmten Lebensstandard, der dem Durchschnitt des unteren Fünftels der Gesellschaft entspricht. Das ist weit mehr als mit den formulierten Zielen der sozialen Mindestsicherung vereinbar.
Redundante Formulierung, welche mutmaßlich v.a. auf die politische Wirksamkeit dieser Aussagen abzielt. Die Aussage ist jedoch klar: Der derzeitige Regelsatz erlaube in Hinblick auf Lebensmittel "weit mehr", als ein soziokulturelles Existenzminimum notwendig mache. Diese Aussage ließe sich bestreiten, übrigens ganz besonders unter Verweis auf die vielfach angesprochene EVS-Stichprobe. Wenn nämlich "übliche Alltagsvollzüge" zum Zielkanon gehören, dann ist kaum vorstellbar, dass Regelsatz-Bezieher mit der Hälfte der Lebensmitteln auskommen, welche von den untersten Fünftel der Gesellschaft konsumiert werden. Insofern ist die geschlussfolgerte Aussage nicht nur klar, sondern auch falsch.
Wie könnte eine Weiterentwicklung der Leistungen für die soziale Mindestsicherung aussehen?
Zu dieser Fragestellung lässt die Untersuchung nur eine folgerichtige Antwort zu: Massive Kürzungen.
Für eine pauschale Erhöhung der Geldleistungen für alle Empfänger spricht derzeit nichts. Die Sätze liegen bereits über dem, was mit den formulierten Zielen kompatibel ist.
Freche und feige Formulierung. Frech ("nichts"), weil andere Begründungen nicht geprüft wurden. Feige, denn nach Ansicht der Autoren liegen die Sätze sogar über dem
Doppelten, das - angeblich - mit den formulierten Zielen kompatibel sei. Überdies muss die urteilende Kompetenz der beiden Autoren bei der behandelten Thematik
gründlich angezweifelt werden, wenn diese nicht einmal wissen, das die Stromkosten der Leistungsbezieher vom Regelsatz zu finanzieren sind.
Statt Hilfen in pauschal festgesetzten Höhen zu gewähren, könnte an gezielte individuelle und problembezogene Hilfen gedacht werden. Dabei könnte, anstatt auf immer höhere Geldleistungen zu setzen, auch an Beratungs- und Sachleistungen als Hilfen zu einem insgesamt besseren Leben (s.o. Ziele B1 Hilfe zur Selbsthilfe und B5 Teilhabe am gesellschaftlichen Leben) gedacht werden.
Unangemessen indirekte Formulierung. Damit wird eine Art Spartraining für Regelsatz-Bezieher angesprochen. Es fehlen in der Untersuchung u.a. Betrachtungen über das Erfolgspotential und die Kosten der vorgeschlagenen Spar- und Lebensführungstrainings.
Zuletzt haben Vossler und Wolfgramm im Zusammenhang mit staatlichen Leistungen für Alte auf die Wichtigkeit der Selbsthilfe hingewiesen (Vgl. Vossler/Wolfgramm, 2008, S. 1f.).
Es wurde in der Untersuchung u.a. versäumt zu überprüfen, erstens, welches Potential die vorgeschlagene Selbsthilfe hat, zweitens, ob die vorgeschlagene "Selbsthilfe" bei einer massenhaften Durchführung durch rund 8 Millionen Regelsatz-Beziehern überhaupt verwirklichbar ist. Im Übrigen steht die Schlussfolgerung einer angeblich notwendigen Selbsthilfe nicht in einem ausreichenden Zusammenhang mit der vorgenommenen Untersuchung von Fischer/Thießen. Es ist also unklar, woraus hier geschlussfolgert wurde.
Im Weiteren könnte an die Koppelung von Transferzahlungen an Gegenleistungen gedacht werden. Studenten der Chemnitzer Technischen Universität haben eine ganz starke Präferenz für diese Weiterentwicklung der deutschen Sozialsysteme offenbart: Transferzahlungen erhält, wer sich der Gemeinschaft im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Verfügung stellt.
An dieser Stelle "schlussfolgern" die Autoren Konsequenzen, die in keinem Zusammenhang mit der eigenen Untersuchung stehen. Zur Erinnerung: Die Autoren haben "bottom up" die Höhe des Regelsatzes untesucht. Sie haben hingegen nicht untersucht, wie "Gegenleistungen" organisiert werden könnten.
Ein Wunschtraum muss sicher die Versorgung der Hilfeempfänger mit befriedigenden Arbeitsmöglichkeiten bleiben, durch welche sich für viele die finanzielle Situation fast automatisch verbessern würde.
Es ist völlig unklar, erstens, woraus die beiden Autoren diesen Schluss ziehen, zweitens, wo die Autoren diese Fragestellung untersucht haben. Erneut also: Unzulässiges "Schlussfolgern" seitens der Autoren..
Wichtig erscheint es, den mit der sozialen Mindestsicherung verfolgten Zielkanon zu überdenken.
Polititische Stellungnahme, aber keine wissenschaftliche Schlussfolgerung. Woraus genau schlussfolgern die Autoren, dass der an der Menschenwürde ausgerichtete Zielkanon zu "zu überdenken" sei??
Man kann über ganz andere Begründungen der Leistungen der sozialen Mindestsicherung diskutieren als sie in Gesetzen festgelegt sind.
Das mag durchaus der Fall sein, deutet aber an, dass die beiden Autoren gerne Fragestellungen
außerhalb der Gesetzlage untersuchen würden. Thießen/Fischer haben zudem im untersuchenden Teil keine entsprechende Diskussion geführt. Ihre Untersuchungsergebnisse machen an keiner Stelle deutlich, dass die vom Gesetzgeber vorgegebenen Ziele revidiert werden sollten.
Die Leistungen der sozialen Mindestsicherung beeinflussen Verhaltensweisen und lösen vielfältige Aktionen und Reaktionen aus.
Das wurde nicht untersucht.
Diese können aus Sicht ökonomischer Optimierungskalküle betrachtet werden.
Völlig unklare Formulierung. Wer genau nimmt wann und unter welchen Umständen welche "ökonomischen Optimierungskalküle" vor?
Aus diesem Blickwinkel heraus kann die Soziale Mindestsicherung als Versicherung gegen (auch selbst herbeigeführte) Notlagen betrachtet werden.
Aus welchem Blickwinkel genau? Sind die Notlagen bemerkenswert häufig "selbst herbeigeführt" - und inwieweit wurde dies von den Autoren zuvor untersucht?
Sie kann als Instrument zur Optimierung (im Sinne einer Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt) des Risikoverhaltens der Bevölkerung interpretiert werden.
Unklare Formulierung. Die beiden Autoren möchten (mutmaßlich) damit sagen, dass eine Mindestsicherung
unterhalb einer an der Menschenwürde orientierten Regelsatz-Höhe die gesellschaftliche Wohlfahrt maximiert. Die Formulierung "Risikoverhaltens der Bevölkerung" der Autoren korrespondiert mit dem vorher betrachten Selbstverschulden der Bevölkerung. Die Autoren schlussfolgern (woraus?) also, dass ein Regelsatz unterhalb des soziakulturellen Existenzminimums das Selbstverschulden von Notlagen begrenzen würde. Das mag man als einen interessanten Gedanken auffassen, allerdings ist seine Substantiviertheit unklar und - jedenfalls - ergibt sich an keiner Stelle aus der vorgenommenen Untersuchung.
Sie ist ein Instrument zum Selbstschutz der Bürger vor ineffizienten Handlungen in prekären Situationen.
Erneut unklare Formulierung. Die beiden Autoren meinen, dass die Bevölkerung in prekären Situationen die Notlage selbst verschulde und insofern "ineffiziente Handlungen" vornehme. Hier ist erneut unklar, woraus genau die Autoren diesen Schluss ziehen.
Sie kann auch aus rein altruistischen Motiven heraus gewährt werden.
Offenbar schätzen die beiden Autoren die bisherigen Regelungen zur Höhe des Regelsatzes als übertrieben und als Ausdruck von "Altruismus" ein. Das ist eine untaugliche Begrifflichkeit, nicht nur, weil die Motivlagen des Gesetzgebers damit unangemessen simplifiziert werdne, sondern auch, weil "Altruismus" und "Egoismus" sich auf die Verhaltensmotive von Individuen beziehen - und nicht auf den Gesetzgeber. Mutmaßlich geht es den Fischer/Thießen darum, in einer erneuten sprachlichen Variation zum Ausdruck zu bringen, dass sie die bisherige Höhe des Regelsatzes für grob übertrieben einschätzen und eine darüber liegende Höhe als Ausdruck eines nicht-rationalen Kalküls bzw. entsprechend nur als "Altruismus" erklären können.
Aus solchen Motiven heraus ergeben sich möglicherweise andere Leistungen (auch andere Verhältnisse von Geld- und Sachleistungen) als die am kulturellen Existenzminimum orientierten heute.
Die beiden Autoren sind letztendlich der Auffassung, dass 132 Euro völlig ausreichend seien für die Aufrechterhaltung eines soziokulturellen Existenzminimums.
Ich meine: Niemand, der bei der Regelsatzermittlung ernsthaft und sorgfältig vorgeht, kann diese Auffassung teilen. Fischer/Thießen haben keine Wissenschaft betrieben, nicht einmal schlampige Wissenschaft, sondern Propaganda verbreitet. Sie taten dies im Gewand einer wissenschaftlichen Veröffentlichung.
+++ Update 19.09.2008 +++
Eine aktuelle HartzIV-
Studie des IDW (
via).
Labels: Sozialstaat