03 September 2008

Beispiele für Positivismus in der Medizingeschichte

Anmerkungen zur Medizingeschichte

Deutschland im Jahr 1850: Die politischen Verhältnisse sind in starker Bewegung. Zugleich steht Deutschland im europäischen Vergleich (besonders gegenüber England, Frankreich, Russland und die Niederlande) wirtschaftlich eher rückständig da. In der Medizin sind die Lehren von Max Pettenkofer maßgeblich. "Miasmen" gelten hier als wesentliche Krankheitserreger. Diese Miasmen verstand man als athmosphärische, tellurische (erdgebundene) oder, in vermeintlicher Übereinstimmung mit antiken Quellen, sogar als "kosmische Kräfte" zur Auslösung von Infektionen. Es dampft aus der Kanalisation, riecht streng oder wird als Folge von Erderschütterungen aufgefasst. So hat die Medizin ihre Erklärung.

Zur gleichen Zeit macht Ignaz Philipp Semmelweis in Wien als Assistenzarzt die Entdeckung, dass sich mit Hygiene das Kindbettfieber weitgehend vermeiden lässt. Wie kam er dazu? Geschockt von furchtbaren Erkrankungszahlen und mit großer Forscherneugierde stellte er zunächst Dutzende von Hypothesen zusammen, um die Unterschiede der Häufigkeit von Kindbettfieber zwischen zwei Krankenstationen zu erklären (u.a. Athomosphäre, Ernährung, Priesterbesuch, Kontakt mit Leichengift, Überbelegung, Betreuung, Fäulnisprodukte, Lage bei der Geburt, Grobheit der Untersuchungen, psychologische Faktoren u.v.m.) - und nahm ausdauernd eine Reihe von Experimenten vor. So variierte er auch die Art und Weise, wie Priester die Sterbesakramente überbrachten. Die in seiner Zeit gängigen Hypothesen verwarf er experimentell und fand zu seiner großen Freude eine Ursache, ebenfalls nach sorgfältiger Durchführung von Experimenten.

Semmelweis fand heraus, dass der vorherige Kontakt der behandelnden Ärzte mit Leichenkörpern und einen angenommenen unbekannten "Leichenstoff" einen sehr großen Einfluss auf die Todesraten hatte. So verbot er, unter großen Protest der beteiligten Ärzte, dass Ärzte, welche mit Leichen in Kontakt kamen, bei Geburten helfen durften. Danach nahm er Versuche mit mehreren Chemikalien zur Desinfektion vor, entschied sich dann für Chlorkalk und wies nach: Das zuvor für unvermeidlich gehaltene Versterben von Frauen bei der Geburt (mit Raten von bis zu 20 Prozent und höher) ist durch Hygiene und durch den Einsatz von Chlorkalk zur Desinfektion vermeidbar.

Die deutsche Medizin-Öffentlichkeit hielt die Ansichten von Semmelweis für außerordentlich skandalös (trotz seiner Nachweise und drastischen Erfolge), und die Medizinerschaft störte sich an seinen Warnungen vor unsauberen Händen und vorherigen Kontakt mit Leichen. Außerdem passten die Behauptungen von Semmelweis zu keiner bekannten medizinischen Theorie. 1858, zum Beispiel, lehrte der berühmte deutsche Mediziner Rudolf Virchow seinen Studenten, in Übereinstimmung mit Pettenkofer, dass die "Ansammlung eines intensiven Miasmas" (Quelle) die Krankheitsquelle für das Kindbettfieber sei, während die Ansichten von Semmelweis hingegen abzulehnen sind. Der damals berühmte Mediziner Friedrich Wilhelm Scanzoni fälschte sogar Untersuchungen, um damit Semmelweis zu widerlegen.

Auch die statistischen Belege des amerikanischen Arztes und Schriftstellers Oliver Wendell Holmes konnten sich zunächst nicht durchsetzen. Und dies, obwohl das Datenmaterial eindeutig war. Er und seine Freunde waren bei der Desinfektion von medizinischen Geräten sehr erfolgreich. Er schlug diese Methoden 1943 für eine breite Öffentlichkeit in seiner Schrift "The Contagiousness of Puerperal Fever" vor. Auch Oliver Wendell Holmes wurde für seine Erkenntnisse und Erfolge umfassend angefeindet. Holmes hatte gegenüber Semmelweis jedoch den Vorzug, dass er auch ein talentierter Schriftsteller war, sodass sich seine Lehren immerhin in Neuengland verbreiteten - und dort fortlaufend den Nachweis der Richtigkeit medizinischer Desinfektionsmaßnahmen erbrachten.

Etwa zur gleichen Zeit kam Florence Nightingale bei der Betreuung von Kriegsopfern zu teils ähnlichen Ergebnissen. Ebenfalls arbeitete sie mit Methoden der Medizinstatistik und sie kam bei ihrem heldenhaften Einsatz auf der Krim zwischen 1854-1857 u. a. zur Erkenntnis, dass reinliche Verhältnisse und das Auskochen von Wundverbänden Leben retten - mit ihren Methoden senkte sie die Sterberate in den Lazaretten von 42% auf 2%. Sie kehrte 1857 als 37-Jährige und berühmte Frau nach England zurück, für ihre patriotischen Taten von der Presse gefeiert. Gleichzeitig galten ihre Ansichten zu Sauberkeit und Hygiene unter Medizinern zunächst als hochgradig lächerlich. Sie widmete sich in den Folgejahren der Entwicklung der Pflegepersonal-Ausbildung und es gelang ihr zudem, in England Sozialdienste zu etablieren.

Semmelweis erlebte den Siegeszug seiner Lehren nicht mehr, verstarb unter dubiosen Umständen (eventuell unter Beteiligung seiner Gegner) im Jahr 1865 in einer Irrenanstalt - ausgerechnet an einer Wundinfektion. Vielleicht war es auch so, dass der verzweifelte und aggressive Ton von Semmelweis gegenüber dem medizinischen Establisment (Quelle) der breiteren Anwendung der neuen Methoden schadete. Der englische Arzt Joseph Lister hatte mehr Glück. 1867 zeigte er, dass mit Karbolsäure vorgenommene Desinfektionen der Hände von Ärzten und Pflegepersonal sowie der medizinischen Geräte nützlich sind - und er wurde in der Welt der Medizin dafür akzeptiert.

Joseph Lister argumentierte weniger mit statistischen Nachweisen wie Holmes und Semmelweis, sondern argumentierte innerhalb der anerkannten Sprache wissenschaftlicher Mediziner. Habitus und Sprachhabitus von Lister trafen den Geist der Zeit besser - und er beschrieb die vorgenommenen Experimente in der passenden Nomenklatur, ohne allzu empfindlichen Widerspruch zur herrschenden Lehre. Zudem war der von ihm konzipierte, mit Karbolsäure getränkte "Listersche Wundverband" einfach zu handhaben und es war für die beteiligten Ärzte weniger mit Schuldgefühlen verbunden, wenn sie auf dieses Mittel setzten.

Dennoch erhielt Joseph Lister in England viele Jahre keinerlei Anerkennung für seine Methoden, zumal er dort nur als "Mann aus Edinburgh" galt. Die maßgeblichen Ärzte in London feindeten ihn an (Quelle). Etwas entmutigt von seinen Misserfolgen begab er sich 1875 auf eine Reise nach Deutschland und stellte verblüfft fest, dass ihn die deutschen Klinikärzte bejubelten und seine Methoden bereits bekannt waren (Beispiel Berlin) oder sehr schnell an den deutschen Kliniken eingeführt wurden. Seine Besuche in Leipzig und München glichen einem Triumphzug und wurden gefeiert. Entsprechend ermutigt kehrte er nach England zurück, erkämpfte 1877 in London eine Medizinprofessur und propagierte seine Lehren, anfangs vor leeren Hörsälen. Doch schon 1880 hatte er die meisten Londoner Ärzte bekehrt und den endgültigen Durchbruch in London erlebte er im Jahr 1883, als er sechs spektakuläre - und erfolgreiche - Operationen vornahm.

Die deutschen Frauenärzte schlugen sich im Jahr 1877 nahezu vollständig auf die Seite von Semmelweis, zunächst die Frauenärzte in Berlin, nachdem sie 1875 eine Untersuchungskommission einsetzten und die dort erlangten statistischen Nachweise akzeptierten. Anschließend setzten sie die neuen Methoden der Frauenmedizin sogar gesetzlich durch und feierten den Deutsch-Ungaren Semmelweis als "Retter der Mütter" (Quelle - Doc). Semmelweis wurde wegen seiner Erkenntnisse im deutschen Sprachraum angefeindet und vertrieben - und dennoch, er wurde in Europa später nirgendwo stärker akzeptiert und gefeiert wie von deutschen Medizinern. Adolf Kussmaul, Gustav Adolf Michaelis, Louis Kugelmann, Wilhelm Lange und Alfred Hegar kämpften mit Nachdruck für die Ansichten von Semmelweis.

Die allgemeine Durchsetzung der Keimtheorie, besonders seitens von Louis Pasteur, ebnete die Anwendung der neuen Erkenntnissen den Weg, auch bei jenen Medizinern, die an der Notwendigkeit von Hygiene- und Desinfektionsmaßnahmen zweifelten. In Deutschland war außerdem Robert Koch an der Durchsetzung der neuen Erkenntnisse stark beteiligt. Es dauerte dennoch sehr lange, bis die Anhänger des Seuchenmediziners Pettenkofer in allen medizinischen Fakultäten in die Minderheit gerieten. Erst anlässlich der Hamburger Choleraepidemie von 1892 gelang Robert Koch ein Nachweis, der allgemein überzeugte. Nach Ansicht des britischen Historiker Richard Evans setzte sich Robert Koch allerdings weniger wegen der Überzeugungskraft seiner Argumente durch, sondern mehr, weil er als Vertreter der preußischen Medizin galt - und somit auf der machttechnisch richtigen Seite stand.

Auch der Gegner von Robert Koch, Max Pettenkofer sprach sich für Sauberkeit und Hygiene aus (zur Vermeidung von Miasmen), und setzte darum z. B. die Kanalisation Münchens durch. Ende des 19. Jahrhunderts galt München, nicht zuletzt aufgrund der Bemühungen von Pettenkofer, als sauberste Stadt Deutschlands. Zudem hatte Pettenkofer Pech. Sein Beitrag zum Periodensystem der Elemente war bedeutend, aber es fehlte ihm die Untersützung zur Fortsetzung seiner Forschungen seitens der Bayerische Akademie der Wissenschaften. Pettenkofer war ein Verbreiter rückschrittlicher Irrlehren (z.B. Miasmen) und zugleich ein fortschrittlicher wissenschaftlicher Neuerer. Als 1854 in München eine Cholera-Epidemie ausbrach, bezweifelte Pettenkofer, dass Krankheitserreger oder -keime dafür die Ursachen waren, wofür er ausführliche medizinstatistische Untersuchungen vornahm.

1892, im Rahmen seines berühmten Streits mit Robert Koch über die Ursache der Cholera, schluckten Pettenkofer und seine Schüler sogar Cholera-Bakterienkulturen - und erkrankten nicht bzw. nur leicht, was sie als experimentelle Falsifikation der Lehren von Robert Koch deuteten. Man könnte dieses skurrile Detail, wenn man mag, als eine Widerlegung des "Positivismus" deuten, jedenfalls wenn man ignoriert, erstens, dass es genauso auch "Positivisten" waren, die sich auf die Seite von Semmelweis, Lister, Pasteur und Koch schlugen, zweitens, dass Pettenkofer mit seinen Methoden auf anderen Gebieten Verdienstvolles leistete.

Labels:

1 Comments:

At 13 September, 2008 18:53, Anonymous Anonym said...

Was dem durch das Trommelfeuer der Ignoranten bereits angeschlagenen Semmelweis psychisch das Genick brach, war, daß er im Überschwang der Vaterfreuden ans Wochenbett eilte, unter Mißachtung seiner eigenen Hygienevorschriften, mit der Folge, dass Mutter und Kind starben. Und Semmelweis wurde klar, dass er dafür verantwortlich war.
Sehr tragisch und traurig. Der arme Semmelweis!

 

Kommentar veröffentlichen

<< Home