31 Oktober 2005

Schröder muss ran

Es wird wohl nichts mit dem Rentnerglück. Nachdem Müntefering den Parteivorsitz geschmissen hat, stellt sich die Frage nach dem Nachfolger auf diesem Posten. Wer soll es machen?

+++ Update +++
Kann mal jemand bitte diesen peinlich superlativistischen Artikel voller Rechtschreibfehler überarbeiten? Beim Schreiben - dem Stil ist es anzumerken - war da wohl jemand sehr erregt. Falls da Pulver unter der Nase kleben sollte: Abwischen!

+++ Update +++
Wenn Müntefering sagt, die Partei solle in Zukunft das Gebot der Geschlossenheit beachten, so ist es interessant zu sehen, inwieweit er selbst zu dieser Geschlossenheit beiträgt. Was ist davon zu halten, wenn jemand dem SPD-Präsidium eine Wahl zwischen zwei Alternativen anträgt, um hinterher darüber verstimmt zu sein?

Auch für "beleidigte" Zuchtmeister gilt: Geschlossenheit in einer demokratischen Partei besteht nicht allein darin, dass oben jemand sagt, wo es lang geht, sondern auch darin, dass das Spitzenpersonal Beschlüsse der Mehrheit mitzutragen bereit ist.

+++ Update +++
Im Moment sieht es so aus, als ob ein Ruck durch das politische Spitzenpersonal geht, dass man also nicht fahnenflüchtig wird, sondern bereit ist, die Schwierigkeiten zu überwinden.

Nachdem die rote Heide Konsequenzen gezogen hat, ist Müntefering nun doch bereit, als Arbeitsminister und Vizekanzler zur Verfügung zu stehen. Ein gewisses Mindestmaß an personeller Konstanz ist m.E. zugleich auch Respekt vor dem Wähler. Stoiber bleibt in Berlin, Nahles wird Generalsekretär und beide werden beweisen müssen, wie groß ihre konstruktiven Talente ausfallen.

Ein Zusammenreißen, fernab persönlicher Stimmungen, um dem Land und der eigenen Partei die Zukunftsfähigkeit zu stärken. So bleibt noch die Frage, wer als Parteivorsitzender geeignet ist, die SPD in schwierigen Zeiten zusammen zu halten, diese öffentlich gut repräsentiert und parteiintern einen Weg sachter Erneuerung geht.

Größe zeigt sich nicht zuletzt darin, wie Krisen bewältigt werden.

30 Oktober 2005

MEK-Schlägerbullen

Auch eine demokratische Gesellschaft ist nicht automatisch vor einzelnen, gegen das Wesen von Demokratie gerichteten, Fehlentwicklungen gefeit. Man beachte bei diesem Film, besonders ab Stelle 2:30 (gefunden beim Schockwellenreiter).

Berliner MEK-Schlägerbullen at work. Ist das der demokratische Rechtsstaat?

Besonders besorgnis erregend: Normale Polizisten, die auf unsere Verfassung vereidigt sind, die stehen teils lachend und feixend dabei und greifen nicht ein, um die Bürger zu schützen, während zwei in zivil gekleidete MEK-Sonderbeamte brutale gewalttätige Übergriffe auf protestierende Bürger vornehmen. Mindestens das Dutzend Polizisten, welches diese Vorgänge untätig betrachtete, sollte sich m.E. dienstlich rechtfertigen bzw. angemessen auf dem Dienstweg bestraft werden.

Der stellvertretende Zugführer Rouven K. (Tagesspiegel-Information) hingegen, der wild prügelnd mehreren unbewaffneten wie unbeteiligten Demonstranten während seiner absichtsvollen Übergriffe die Knochen brach, gehört in einem ordentlichen demokratischen Rechtsstaat in den Knast.

Für so etwas gibt es keine Entschuldigung.

Was bitteschön stellt an der MEK "Elite" dar, wenn Übergriffe von dieser Seite hingenommen werden müssten? Ist es die bedingungslose Bereitschaft zur Aggression seitens dieser Spezialeinheiten? Sind die mehrere Hundert dokumentierten Übergriffe pro Jahr allein in Berlin belanglos, wenn die handelnden Polizeitäter nicht erkennbar sind?

Bei allem Respekt gegenüber dem schwierigen Alltag der MEK - es ist offenkundig, dass in der Berliner MEK auch Leute arbeiten, die dort nichts verloren haben. Überdies: Der Einsatz der MEK anlässlich von Demonstrationen sollte in Anbetracht der oft geringen Hemmschwellen, die aus der schwierigen MEK-Tätigkeit herrühren können, besser überdacht werden.

Denn, es ist objektiv nicht einfach, sich gegenüber normalen protestierenden Bürgern stets angemessen zu verhalten, wenn der Arbeitsalltag der MEK-Kräfte vor allem vom Umgang mit schwierigen Klienteln in sozialen Brennpunkten geprägt ist.

P.S.

Intereressante, allgemeine Anregungen zum Thema erhält man: hier.

"Verkaufe", "Marketing" & Politik

Hinter manchem Gegensatz bei der Diskussion, wie ein Kunde zu behandeln sei, steht die Differenz zwischen "Verkaufen" und "Marketing". Ein Verkäufer amerikanischen (20er-Jahre) Typs hält ein stark am Kundennutzen orientiertes Marketingdenken für "idealistisch", das reine Verkaufen für "pragmatisch", während ein Marketingmensch die Etiketten "pragmatisch" und "naiv" genau anders herum verteilt, weil er auf die Nachhaltigkeit der Geschäftsbeziehung wert legt .

Wenn man mal den ethischen Faktor abzieht, den gleitenden Übergang zum Betrug, könnte man behaupten, dass ein Kunde, der zugleich dumm ist, nicht als Wiederkäufer in Frage kommt und Erfahrungen nicht weiter gibt, aus Firmensicht kein "Marketing" verdient hat, sondern nur reines "Verkaufen".
  1. Problem: Eine Firma, die verlernt (bzw. nicht gelernt) hat, zu verstehen, was der Kunde wirklich will und benötigt, ist langfristig betrachtet eine Zufallserscheinung und wird untergehen, besonders dann, wenn sich Kundenbedürfnisse oder der Markt vom angebotenen Produkt wegentwickeln. Das ist ein empirischer Befund: Tatsächlich sind Firmen mit gutem Marketing bzw. kundennahem Produktdesign/Angebot wachstumsträchtiger und krisenfester.

  2. Problem: Ein Kunde, der die Wahl zwischen zwei Produkten hat, die aus Marketingsicht gleich gut für ihn sind, der hat bei einem "gut verkauften" Produkt den subjektiv höheren Nutzen, auch wenn die ihm z.B. verkaufte Exklusivität nur scheinbarer Natur ist. Eine gesunde Dosis "reine Verkaufe" erhöht sozusagen den Kundennutzen, und mag dieser nur in seiner Überzeugung liegen, sich für die richtige Alternative entschieden zu haben.

  3. Problem: Gutes Marketing allein garantiert weder Verkaufserfolge noch wirtschaftlichen Erfolg. Die Zielsetzung, das Kundenbedürfnis verstehen zu wollen, muss Effizienzgeboten gehorchen.

  4. Problem: Der Mensch ist beeinflussbar, (auch) sozial determiniert und überdies an und für sich (oft) unlogisch. Es gibt eine Art "Heisenbergsche Unschärfekorrelation" des Marketings: Bedürfnisse können geweckt, ja, sogar erzeugt werden. Geschickt und breit aufgezogen könnte z.B. ein Fakor "extraglatte Oberfläche" bei Handies propagiert werden, sodass für nicht wenige Kunden darin wahres Kundenglück liegen würde. "Guck mal: Mein Handy hat eine besonders glatte Oberfläche..."

  5. Problem: Das Kunden-Firmen-Verhältnis ist auch eine ethische Beziehung. Als Verkaufender ist man für sich selbst, aber eben nicht allein nur für sich selbst verantwortlich. Nicht alles, was verkaufbar oder vermarktbar ist, und Geld einbringt, ist zugleich richtig. Anders gesagt: Ja, es gibt eine idealistische Dimension, die über das rein Wirtschaftliche hinaus geht.

  6. Problem: Die Welt ist über die Macht der Ökonomie bzw. ökonomischen Denkens deformierbar. So können z.B. Teile des Wirtschaftssystems durch explizites Nicht-Marketing (das heißt: Ignorieren echter Kundenbedürnisse) deformiert werden. Ein Beispiel dazu ist der Markt für Versicherungsprodukte. Lug und Trug im Verkaufsprozess sowie schlechte, überteuerte Produkte sind dort so gängig, dass es dort für "gute Produkte" und "gute Verkäufer" sehr schwer geworden ist, Vertrauen zu erwerben.

    Vertrauen und Vetrauenswürdigkeit sind wesentliche Grundlagen ökonomischer Prozesse.

    Dort, wo die Vertrauenswürdigkeit erodiert ist, dort lauert ökonomischer Tod. Anders herum: Wenn beispielsweise "made in Germany" eine Vertrauen stiftende Dimension hat, ist dies zugleich ein positiver ökonomischer Faktor. Umgekehrt ist es ein negativer Faktor, wenn Vertrauen bzw. deren Grundlagen schwinden.

    Siehe auch Politiksphäre: Wenn es allzu sehr allein um die "Verkaufe" geht, inkl. "schwarzer Kommunikation", Schaumschlägerei, manipulativer Einwandbehandlung, Strategien zur Erringung von Deutungshochheit und Medienmacht, um Deformation der wissenschaftlichen und publizistischen Öffentlichkeit sowie den offenen Betrug am politischen "Kunden", dann deformiert dies den politischen Prozess bzw. erodiert seine Funktionabilität, soweit sogar, dass es die Demokratie als Ganzes betrifft.

    Philosophisch wie praktisch gesprochen: Viele Menschen haben Probleme, mit Macht umzugehen. Je größer diese Macht ist (z.B. die Macht im Staat oder die Leitung eines Großkonzerns), umso größer zugleich sind die damit verbundenen Schwierigkeiten.

    Macht muss immer durch interne Ethik und externe Kontrolle beschränkt werden, wirtschaftliche Macht, politische Macht, und auch Medienmacht. Wird der Kontrollmechanismus manipuliert, so ist dies besonders schwerwiegend.

  7. Problem: Ist in einem Markt, einem Teilmarkt oder für eine Marke ein hohes Maß an Vertrauen aufgebaut worden, so erhöht dies den Anreiz für Betrugsstrategien, beispielsweise das Fälschen von Labeln.

    Wo große Hoffnungen, große Gier oder großes (ungeprüftes) Vertrauen herrschen, dort ist der Betrug nicht weit.

    Dies gilt erst recht, wenn es schwer sein sollte, Betrug und Labelfälschungen zeitig aufzuklären.

    In der Welt der Politik zum Beispiel wird gerne das Label "sozial veantwortlich" oder "soziale Marktwirtschaft" gefälscht, um tatsächlich eine Poltiik der Umverteilung von unten nach oben zu betreiben. Anderes Beispiel: Kommunisten fälschten das Label "Diktatur des Proletariats", um eine von Spitzenfunktionären beherrschte Diktatur des Bürokratie zu errichten.

  8. Was also ist zu tun? Neben positiver Kontrolle, also der Einflussnahme auf ökonomische und politische Prozesse dahingehend, dass in diesen der Kundennutzen regelmäßig getestet, verglichen und transparent gemacht wird:

    Ethik und Aufklärung.

29 Oktober 2005

Demokratie? Mit gerichteten Medien??

Nachdem ich im vorherigen Beitrag behauptete, dass in unserem Staatswesen die Demokratie davon abhängt und im Wesentlichen damit steht und fällt, wie unsere Medien wirken - beteiligt sich heute Donald Rumsfeld zustimmend an dieser Diskussion:

"Das Kraftzentrum des Irak-Kriegs liegt nicht im Irak. Wir verlieren nicht dort Schlachten und Scharmützel. Schauen Sie, die wirklichen Schlachtfelder sind die Öffentlichkeiten in Ihrem Land und unserem Land. Und Sie, also die Medien, gehören zu jenen Leuten, die Einfluss auf diese Öffentlichkeit ausüben. Aber mit der Zeit werden wir die Dinge richten."

Wie so oft sind uns die USA in der gesellschaftlichen Entwicklung voraus. Dort haben die politischen Eliten klar erkannt, wo der Knackpunkt der Demokratie liegt. Machterhalt und Machterwerb, die gesellschaftliche Agenda, Kriegsbereitschaft und Hochrüstung:

Eine "gerichtete" Öffentlichkeit ist das Ziel der Mächtigen.

Die Tamiflu-Kampagne bei uns und der immense Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes in den USA liefern virile Beispiele dafür.

Ein großes Thema - die wirklichen Schlachtfelder sind die Öffentlichkeiten.

Amusement (1) - Viren und die Folgen

Aus nicht gegebenen Anlass verweise ich auf die Folgen von Virenbefall. Flash it!

28 Oktober 2005

Demokratie? Innerparteilich??

  1. Demokratie ist eigentlich bedeutend viel mehr als der Kampf von Parteien und der angegliederten Apparate und Medienszene um das Votum der Bürger.

  2. Bietet nun die "große Koalition" eine Chance auf mehr Demokratie, auf mehr innerparteiliche Demokratie? Dies, nachdem Parteitage mehrheitlich in Hinblick auf ihre Medienverwertbarkeit und zum Abfeiern der Spitzenkandidaten konzipiert werden, und nachdem unser Parlament nicht mehr der Raum ist, wo tatsächlich debattiert wird, sondern eine auf die Wirkung in den Medien gestaltete Pseudoveranstaltung, für die es - jedenfalls bei allen bedeutenden Abstimmungen - völlig ausreichen würde, wenn dort einfach die Beschlüsse der Fraktionen vorgelesen werden, während die Öffentlichkeit nicht erfährt, wie die Willensbildung innerhalb der Fraktionen von statten ging.

    Also: Mehr innerparteiliche Demokratie dank großer Koalition?

  3. Der fraktionsdisziplinäre Beton wird auch in Zukunft bis in die kleinsten Parteiniederungen heruntergegossen, und falls es dazwischen allzu aufmüpfiges Grün geben sollten, so wird es zertreten.

    Wir sind wohl kaum eine "mustergültige Demokratie ohne wesentliche Demokratiedefizite", demnach hat bei uns, in diesem unseren Lande, innerparteiliche Demokratie die entsprechend sehr geringe Bedeutung und wird allgemein als "Basisdemokratie" verhöhnt. Die CDU ist faktisch eher eine Kaderpartei, ihren inneren "Volksparteicharakter" hat sie allein in der Regionalpolitik, was, wenn meine Beschreibung stimmt, einen klaren Bruch unserer Verfassung darstellt.

    Was ist, bitteschön, nochmal so schlimm daran, wenn die schmutzige, dumme und plebsnahe Parteibasis realen Einfluss hat?

    Das alles klingt vielleicht pessimistisch, aber ich weiß, worüber ich schreibe. Bei uns, in unserem Land!, geht es sogar so weit, dass in Hamburg Verfassungsrichter das Votum des Souveräns für komplett ungültig erklären (bzw.: Gültigkeit 1 Tag und nicht länger)!!

    Ein Riesenskandal - aber keiner, über den entsprechend berichtet wird. Der Begriff "Souverän" klingt offenkundig recht fremd und theoretisch.

    Die partizipativen Beteiligungsinstitutionen, die in unserem Staat eigentlich vorgesehen sind (Bürgerräte, Bürgerbeteiligung) sind entweder entmachtet, von strammen Parteisoldaten dominiert oder sonstwie außer Betrieb gesetzt.

    Man mag den Bürger nicht, den man regiert.

    All dies unter anderem, weil bei den politischen Eliten unseres Landes der Begriff "Demokratie" sinnentleert ist. Wenn es überhaupt ein Wort gibt, mit dem man der Kaste aus politisch aktiven Richtern, Rechtsanwälten, Beamten, aktiven und ins Parlament gewählten Lobbyisten, Regierungsmitgliedern, Politikern und Abgeordneten auf einen Nenner bringen könnte, dann wäre es jedenfalls nicht:

    Volksherrschaft.

    Eine Regierung durch das Volk, mit dem Volk und für das Volk.

  4. Man verzeihe mir den Zynismus.

    Wir wissen, dass nicht durch das Volk regiert wird, sondern, dort, wo es sich unmittelbar zu Worte meldet, ihm die Rechte genommen werden.

    Wir wissen, dass es nicht die Bürger in ihrer Vielfalt sind, nicht mit dem Volk regiert wird, sondern nur eine höchst eingebildete, phrasendreschende Kaste, die uns mit "Globalisierung!", "weniger Staat!", "Zivilgesellschaft!" oder "Parasiten!" die Ohren voll dröhnt, ohne den eigenen Laden im Griff zu kriegen bzw. tätig nachzuweisen, dass man aufwändige Gesetzes- und Verwaltungsapparate im Sinne der Bürger spürbar verschlanken kann. Stattdessen werden für groß tönende "Verwaltungsreform"en unzählige Unternehmungsberatungen gemästet.

    Wir wissen, dass das Allgemeinwohl als Maßstab für Regierungshandeln mittlerweile fast schon unter Sozialismusverdacht gestellt ist, dass also nicht für das Volk regiert wird - soll doch das Volk möglichst für sich selber sorgen, während man Industrie-, Agrar-, Rüstungs- und andere Lobbies munter mit Steuergeldern zu beschenken weiß, zum Beispiel (sicher kommend) den Transrapid, der auf dem freien Markt (ohne das Aufpäppeln durch den Steuerzahler) nicht einen Hauch einer Chance hat.

    Realistisch betrachtet (also unter der Voraussetzung: innerparteiliche Demokratie gibt es kaum) - und abgesehen von der Hoffnung, alle vier Jahre das richtige Kreuz zu treffen :

    Bleibt uns mehr als Zynismus, gegenüber der angeblich "demokratischen" realen Verfassung unseres Staatswesens?

  5. Gut: Es bleibt uns mehr: Medien.

    Parteien und Regierungen sind bei uns, jedenfalls bei allen empfindlichen Themen, welche die Schicht der Medienöffentlichkeit durchstoßen, sensibel, zur Berücksichtigung aller Sachverhalte verdammt, welche das Wählervotum prägen könnten.

    So gibt es also immer den lebendige Demokratie fördernden Ansatzpunkt, über die Medien zu gehen. Was aber, wenn ein Thema nicht skandalträchtig genug ist, um ein Medienthema zu sein? Ein Thema wie die innere Verfassung unserer "Volksparteien", zum Beispiel beim Thema Europapolitik, das hat nicht die geringste Chance auf Medienwirkung, obwohl man mit guten Argumenten behaupten kann, dass es ein bedeutendes Thema ist.
    Können wir uns erlauben, dass unsere Demokratie versagt, wo unsere Medien versagen?
    Und was ist, wenn unsere Medien selbst schon deformiert sind, und sich eben nicht vom Bürgerwillen leiten lassen, sondern zu einem Gutteil von Partikular- und Geldinteressen?

    Wenn zum Beispiel - über den Umweg der Medien - miese Tamiflu-Lobbyisten sich bedienen können, indem sie sich die Nachrichten in den Medien teils schlicht kaufen? Anmerkung: Ich kann meine Behauptung für BILD konkret nachweisen und im Fall des SPIEGELS vermute ich hier (aus guten Gründen heraus) : Käuflichkeit
    . Pssst!
    Was ist, wenn Verlagsspitzen aus Partikularinteressen heraus in wesentlichen Fragen eine völlig andere Haltung als die Bürger einnehmen und sich zu Kampagnen verabreden, um auf diesem Weg Einfluss auf unsere Demokratie auszuüben?

  6. Gut: Es bleibt uns mehr: Menschen.

    Man kann, Geschick und Hartnäckigkeit vorausgesetzt, auch innerhalb von Parteien wirken. Der tatsächlich mögliche Einfluss wird von den meisten Bürgern in unserem Land völig unterschätzt. Man kann sogar, wenn man sich innerhalb der Parteien an die richtigen Addressaten wendet, als einzelner Mensch große und bedeutende politische Vorhaben nachhaltig beeinflussen.

    Die Anzahl tatsächlich aktiver Bürger ist in den deutschen Parteien ziemlich begrenzt. Jeder einzelne Mensch, der geschickt und hartnäckig genug ist, kann in einer großen Volkspartei bedeutende Dinge anstoßen bzw. beerdigen.

    Jeder.

    Was im Prinzip ja auch wieder beunruhigend ist. Ich als Person muss von mir sagen, dass meine "Guerilla-Taktik" innerhalb von Parteien bzw. Parlamenten bereits einen zigmillionen schweren Einfluss entfaltet hat (und das ist eher stark untertrieben). Ich habe keine Gewissensnot dabei, denn in dem einen Fall wurden unnötige Staatsausgaben verhindert, und in dem anderen, deutlich kleineren Fall, segensreiche Staatsausgaben im Umfang von 20 Mio DM erzwungen. Dazu kommen dann noch zahlreiche Kleinigkeiten, bei denen jeweils erstaunlich ist, wieviel ein einzelner Mensch, zudem in gehöriger Entfernung zum tagtäglichen Partei- und Parlamentsapparat zu bewegen vermag. Man kann zum Beispiel - solange man sich als Teil der eigenen Truppe ausgibt - als Guerilla-Aktivist mit kleinen Zetteln und kurzen Gesprächen Ministerentscheidungen in Minutentempo ändern.

    Einfluss ist möglich. Und nötig.

    Was aber, wenn unsere Parteien innerlich so beschaffen sind, dass die Mitwirkung für den Normalbürger tatsächlich unzumutbar ist?

  7. Man hat nicht den Eindruck, dass sich die Volksparteien um Bürgerbeteiligung sonderlich intensive Gedanken machen.

    Man hat erst recht nicht den Eindruck, dass die angeblich "liberale" Partei in Deutschland sich Gedanken um Bürgerbeteilung macht, außer dahingehend, Bürgerbeteiligung als Investitionshemmnis zu verstehen.
  8. Bürgerbeteiligung und "liberale Partei": Das passt wohl nicht zusammen.

27 Oktober 2005

Marktlibertäre Liberalität

Reicht es zu sagen: Amerikanische Konservative und amerikanische Liberale sind am ehesten darin chrakterisiert, dass sie die Kräfte des Privateigentums und der Märkte für ausgesprochen segensreich halten. Genügt das zur Definition?

Nein.

Eine gewisse Dosis gesellschaftliche Illiberalität gehört halt für Konservative doch dazu, erst recht für "strong republicans", die in unserem Land, sofort als Faschisten eingestuft würden, wenn diese sich mit ihren klassischen Positionen bei uns an öffentlichen Debatten beteiligen würden.

Man kann einen "typischen" amerikansichen Konservativen nicht allein an seiner Marktliebe fassen. Das reicht nicht; dafür muss nicht einmal an Rush Limbaugh gedacht werden. Dazu kommt eine christlich-evangelikale Komponente, also um "konservative Werte" - heute mehr denn je.

Dennoch kann man schon sagen, dass Marktnähe in Amerika viel zählt:

Amerikanische Konservative haben einen deutlich ausgeprägten marktlibertär- und oft auch moderat liberalen Schlag und "Aäingchiie" teilt - im Gegensatz zu klassischen deutschen Konservativen - diese Staatsskepsis in besonderen Maß und darüber hinaus auch viele amerikanische Ideen zur Wirtschafts- und Sozialverfassung der Gesellschaft. Sie ist auch auch nicht so ausgeprägt obrigkeitstaatlich, wie es deutsche Konervative von jeher sind, z.B. auf dem Gebiet der Innenpolitik.

Dazu kommt gerade bei Frau Merkel eine viele hundert bittere Pillen weit überschreitende große Extradosis Sozialstaatsfeindlichkeit, bei der sie in ihrer Partei in dieser Konsequenz nicht nur Gegenliebe findet.

Richtig schreibt AlaPos:

"Solange der ökonomische Liberalismus auf Rechnung der Freiheit Geschäfte mit Unfreiheit, Diktatur und Korruption macht, werden die Bürger sich unter dem Stichwort "Liberalismus" genasführt und ausgebeutet fühlen."

Nun ja: Wirtschaftsliberalismus benötigt halt nicht zwingend gesellschaftlichen Liberalismus.

S`isso.

Es geht zur Not auch ganz gut ohne gesellschaftlichen Liberalismus, denn solange Eigentum und Einkommen nicht in Gefahr geraten bzw. sogar gefördert werden, zum Beispiel durch die Gewährung staatlicher Lizenzen, Aufträge oder Monopole (besonders umfassende wirtschaftliche Schutzrechte beispielsweise) kann es für wirtschaftsliberale Unternehmer sogar angenehm sein, von den Zumutungen der Zivilgesellschaft (z.B. Arbeitnehmerrechten, Ökoauflagen, Bürgerbeteiligung) eher verschont zu werden.

Wie in Russland.

Es gibt aber noch etwas Zweites, wo sich das Gefühl des Genasführtwerdens bei vielen Bürgern einstellt:

Menschen scheinen ganz nämlich allgemein, und sogar weltweit das Gefühl zu haben, dass sie in sozialer Hinsicht nicht schutzlos sein möchten.

Woher sie diese in "liberalen" Kreisen als unverschämt empfundenen Auffassungen haben, kann ich im Moment nicht genauer eroieren, diese sogenannte "Freiheitsskepsis", diese "natürliche Angst der Versager vor dem Glanz der Freiheit", dieser "Hass auf den Markt" usw. usf.

Nun, solange Liberalismus meint, im Wesentlichen qua unsichtbarer Hand würde "die Freiheit" automatisch zu sozial vernünftigen Ergebnissen gelangen, solange haben nicht wenige Menschen den Eindruck, dass sich die liberalen Eliten über die Anliegen von Durchschnittsmenschen ignorant lustig machen, statt eine belastbare Version liberaler Sozialstaatlichkeit anzubieten.

Der Punkt ist: Wo "liberales Denken" sich v.a. als sozialstaatsfeindlich begreift, mit seinem politischen Stoßschwerpunkt Entstaatlichung und Sozialstaatsabbau, und nicht einmal in groben Skizzen in der Lage und willens ist, ein umfassendes, effizientes wie liberales Sozialstaatsmodell zu präsentieren, und zwar über die Kuschelecke für die Bildung hinaus, solange erscheint politischer Liberalismus in den Augen sehr vieler Menschen nur als eine Eliten systematisch begünstigende Angelegenheit.

Natürlich irren sie. Oder?

Der Eindruck kommt auf: Den Liberalen von heute geht es nicht um menschliche Freiheiten, sondern schwerpunktmäßig nur um die Freiheiten von Wohlhabenden.

Zwei Fragen zum Gericht

Was ist das für ein Gericht, wenn Parteilichkeit als die höchste Richterqualifikation bei der Besetzung der Richterstühle gilt?

Was ist das für ein Land, wo ein von fundamentalistischen Religionsanhängern vorgebrachter Verdachtsmoment, ein Verfassungsrichter könnte unabhängig und nur an der Verfassung orientiert richten, sowie der Verdacht, der Kandidat sei in religiöser und politischer Hinsicht nicht fundamentalistisch genug, dessen Berufung verhindert?

Iran?

Das Appeasement-Argument taugt nichts

Amerikanische Falken behaupten überaus gerne, dass der Verzicht auf militärisches Handeln so etwas wie "Appeasement" sei, welches ja z.B. für Hitler verantwortlich ist. Fast immer, wenn es um die Begründung eines neuen Krieges geht, hört man auf der Seite von "strong republicans" (die nach unserem europäischen Verständnis eher eine Art christliche Faschisten sind) und von Neocons, dass "Appeasement" (das heißt: Diplomatie) für nahezu jedes Übel der Welt verantwortlich sei, angefangen bei der Existenz diktatorischer Regimes.

Ich vermute mal, dass hier etwas Entscheidendes in der der schulischen Ausbildung im angelsächsischen Raum schief gegangen sein muss, und zwar nicht nur, weil inzwischen fast jede Form von Diplomatie gegenüber gegnerischen Staaten sogleich "Appeasement" genannt wird.

Eigentlich meint der Begriff Appeasementpolitik einseitige Verzichtspolitik mit dem Zweck der Beschwichtigung eines militärisch drohenden Landes. Die richtige Anwendung des Begriffs "Appeasement" ergibt sich also nur gegenüber von Staaten, die mit Krieg drohen.

Wenn also Syrien stärker mit internationalen Anklägern zusammen arbeitet: Dann ist das ein echter Fall von Appeasement, in diesem Fall gegenüber den USA. Ein Nachgeben gegenüber militärischem Druck muss nicht immer falsch sen.

Ich benutze den umgewerteten Begriff dennoch im Folgenden so, wie ihn die angelsächsischen Falken gebrauchen (sowie europäische Neocon-Imitatoren), nämlich als Schmähung gegenüber dem Einsatz von Diplomatie im Konfliktfall an Stelle von Militärpolitik.

Weniger Appeasement = weniger Hitler?
Der von kriegs- und rüstungsinteressierter Seite gern propagierte Glaube, dass Hitler durch eine andere angelsächsische Außenpolitik im Jahre 1938 zu verhindern gewesen wäre, ist völlig unbegründet, was verblüfft, wenn man bedenkt, wie oft dieses "Argument" in die politische und historische Diskussion eingebracht wird.

War nun das Münchner Abkommens vom 29. September 1938 ein Wegbereiter Hitlers?

Nein. Es war Hitler nicht einmal eine sonderliche Hilfe, denn es schob den von Hitler angestrebten Krieg fast ein halbes Jahr auf, was in der Zeit nach dem Münchner Abkommen Großbrittannien die Zeit für ein ambitionietes Hochrüstungsprogramm gab, und damit womöglich eine Invasion Deutschlands in Großbrittannien verhindern half.

Ohnehin: Hitler hätte sein kriegerisches Mordsprogramm auch ohne die kurze Phase des Appeasements durchgezogen, und ein etwas zeitigerer Kriegsbeginn, z.B. am 29.09.1938 anstelle des Vertragsabschlusses, hätte insgesamt kaum etwas am geschichtlichen Verlauf geändert, außer, und dies ist eine bewiesene historische Tatsache, dass Frankreich und England noch weniger auf einen Waffengang vorbereitet gewesen wären.

Mit dem Bruch des Münchner Abkommens im März 1939 durch den Einmarsch in Prag wurde klar, das ein Krieg unvermeidlich war und in Kürze folgen würde.
Die Behauptung, dass Hitler durch "Appeasement" stark gemacht wurde, und dass das "Appeasement" schuld am Terror des Hitlerstaats war, ist zutiefst dämlich.
Begründeter ist die Annahme, dass der Hitler-Stalin-Pakt den Kriegsausbruch beschleunigte. Klug wäre die Vermutung, dass die Bedingugen von Versaille (die ja nun alles andere als "Appeasement" darstellten) eine der historischen Ursachen waren, z.B. dafür, dass die Hitlerbewegung so stark aufkommen konnte.

Auch fernab der beliebten, dennoch historisch falschen Propaganda um den Begriff "Apeasement", kann man die Überlegung anstellen, dass General Schleicher durch außenpolitische Zugeständnisse von Frankreich und England (die später dann ausgerechnet Hitler gemacht wurden), so sehr hätte gestärkt werden können, dass damit Hitler von Beginn an (also: vor 1933) verhindert worden wäre.

Einen General Schleicher (eine Mischung aus preußischem Offizier, Sozialdemokrat und Nationalist) mit außenpolitischen Erfolgen hätten 1933 genügend Deutsche an Stelle von Hitler gewählt. Hitler wäre von den Westmächten zu verhindern gewesen. Hier war also nicht "zu viel Appeasement" das Problem, sondern ein störrisches Festhalten an den ungerechten und kontraproduktiven Bedingungen von Versaille.
Die Geschichte der Entwicklung zum Zweiten Weltkrieg belegt die neokonservative Idee nicht, dass Krieg, "mehr Härte", militärische Drohnungen und "bloß keine Diplomatie" nachhaltige politische Konzepte darstellen.

26 Oktober 2005

Wie faschistisch ist Russland?

Der mehr minder schöne Schein von "Reformen" kann nicht verbergen, dass Russland Züge eines faschistischen Staates aufweist. Man erkennt Faschismus am einfachsten in der Art und Weise, wie er mit Macht, und vor allem daran, wie er mit politischen Gegnern umgeht.

Während man zulässt, dass eine Mixtur aus KGB, Oligarchen und Mafia frühkapitalistische Verhältnisse entstehen lässt und sich an der Gesellschaft maßlos bereichert, sichert der Staat sich selbst und die mafiöse Oligarchien ab, indem er politische Gegner massiv unterdrückt.

Wer es noch nicht bemerkt hat: Die Mafia in Russland ist der Bluthund des neureichen und staatlich abgesicherten russischen Kapitalismus, welcher fast nur mittels Mafia und Korruption Geschäfte zu machen versteht. Putins eifrig inszenierter "Kampf gegen die Oligarchen" ist zugleich deren gemeinsame Absicherung vor dem Zorn des russischen Volkes.

Die Medien in Russland sind durch eine autoritär-faschistoide Regierung praktisch gleichgeschaltet, das Beamtentum korrupt, Russlands Bodenschätze werden ausgeräubert, die hochgradig privatisierte Ökononomie ist weitgehend gescheitert, was im Übrigen auf gewisse Mängel neoliberaler Dogmen hinweist.

Die Vertragstheorie besagt, dass die soziale Verteilung von Privatisierungen nicht wesentlich sei, solange ökonomischer Wettbewerb in Folge entstehe. Auch die Korruption oder andere Mängel des wirtschaftlichen Wettbewerbes in Russland sind nicht die springenden Punkte; die beiden Hauptfragen sind, erstens, wie eine Sozialstaatlichkeit und Teilhabe am Wohlstand hergestellt werden kann, und zweitens, wie man die breite Bevölkerung produktiv am Wirtschaftsleben zu beteiligen vermag. Die neoliberale Ideologie der Privatisierung weiß darauf keine ernst zu nehmende Antwort.

Doch weiter zu Russland: Hinter der verlogenen Fassade eines angeblichen Rechtsstaates wird die Opposition unterdrückt, teils durch Staatsorgane und Bürokratie, teils mit manipulativer Öffentlichkeitsarbeit, welche modern-unfairer politischer Kommunikation in den USA abgeschaut wurde - jedoch im totalitären Rahmen ungleich effizienter ist. Zur Fassade gehört, dass man auf Inseln von Meinungsfreiheit verweisen kann - während man diese aus dem Mainstream auszusperren versteht, oder übernimmt, falls sie störend wird.

Russland siecht in schwerer Krankheit, während ausländische Regierungschefs die glänzenden Eiterpusteln schwärmend anpreisen, Putin und seine Regierung, um uns anschließend die Anzeichen kräftigster Gesundheit zu vermelden, zuvorderst unser nunmehr ehemaliger eigener Regierungschef, der sich für dieses Schauspiel auch in Zukunft nicht zu schade sein wird.

Im totalitären Staat ist nicht Chancengleichheit, sondern Unfairness und Gewalt die Richtschnur, hinzu kommen einflussreiche Geldinteressen, welche die Begriffe "Gedankenfreiheit", "Demokratie", "Freiheit des Gewissens" und "Meinungsfreiheit" in Russland zu parasitären Kunstworten umformen, oder diese beliebig mit "Ordnung", "nationale Sicherheit" und "Kampf gegen den Terror" vertauschen.

Russische Liberalismus, dessen allererstes Zeichen das völlige Fehlen sozialer Verantwortung ist, konzentriert sich auf die Freiheit, das Land und die Menschen zu berauben - deshalb arrangiert er sich mit Putin und allen übrigen, die ihm dies garantieren können.

Die russischen Eliten, welche allein schon aus Desinteresse keine Perspektive für 90 Prozent des Landes bieten können, sie glauben, dass man der Bevölkerung jeden Unfug, jede Lüge und jeden Irrsinn wie ein glattes Reklamemärchen oder als Heilsgewissheit verkaufen könne, dass man überdies noch die Trumpfkarte des Nationalismus als Ass im Ärmel frei hat, falls es unvermutet eng werden sollte.

Die faschistische und faschistoide Struktur des heutigen Russlands, an dessen Spitze sich Putin als leibhaftige und allmächtige Inkarnation des Rechtsstaats inszeniert, dient neben der russischen Bürokratie vor allem ökonomischen Interessen, z.B. von Privatisierungsgewinnern und Großinvestoren, welche sich fernab störender Zivilgesellschaft und Sozialgesetzgebung vor allem "Freiheit" für fortgesetzte Raubzüge wünschen.

Russlands Transformation seit 1990 ist bislang kaum mehr als eine Transformation in einen neuen Typus:
marktwirtschaftlichen Faschismus.

Väterchen Russland, mache deine Augen auf!

25 Oktober 2005

Pressefreiheit und ökonomische Partikularinteressen

Für mich stellen sich im Pressemarkt völlig andere Fragen als die, die sich in Bezug auf das Holtzbrinck-Geschäft (s.u.) ergeben:

Kann man erreichen, dass die Meinungsvielfalt grundsätzlich etwas weniger stark von partikularen Geldinteressen bestimmt wird? Was haben wir davon zu halten, wenn Verleger sich zu politischen Kampagnen verabreden, den Bürger instrumentalisieren, wenn für Tamiflu eine von Lobbyisten bezahlte Grippehysterie (führend dabei: SPIEGEL und BILD) fabriziert wird, wenn Pressearbeit zunehmend wiederkäuend und deformierend ist, statt recherchierend und informierend?

Wie kann der Bürger mit seinem Anliegen genügend Öffentlichkeit erhalten?

Ist eine fast ausschließlich nach Geldinteressen organisierte Presse- und Medienfreiheit wirklich das Optimum, dass wir uns für unsere Demokratie wünschen können? Sind Täuschung und Unausgewogenheit seitens von Leitmedien hinnehmbare Erscheinungen, sobald dahinter mächtige ökonomische Interessen stehen? Falls nein: Wie lauten die Alternativen? Mehr ARD und ZDF? Thinktanks? Akademien? Ethische Standards? Zuschüsse und Preise für gute Recherchearbeit?

Ich weiß es nicht, jedenfalls halte ich die "offenen Kanäle" der Blogs schon einmal für einen guten Ansatz. Wenn hier noch ein paar qualitätsfördernde Dinge geschehen, dann wäre etwas erreicht.

P.S.
Informationen zur weltweiten Lage der Pressefreiheit findet man: hier. Sehr lesenswert!

Braut und Bräutigam

Hätte ich Berliner Kurier, Tip und Berliner Zeitung für ca. 180 Mio verticken können - jederzeit! Selbst bei optimaler Bewirtschaftung sind kaum mehr als 100 Mio Wert im Ganzen zu sehen, trotz des letzten Jahresgewinns in Höhe von 9 Mio Euro, der eine einmalige, mehr bilanzielle Erscheinung sein dürfte. Für den Verkäufer war das ein guter und notwendiger Deal, welcher voraussichtlich dem Tagesspiegel, der ZEIT, diversen Verlagsprodukten und Autoren/innen und digitalen Versuchen der Holtzbrinck-Gruppe zu Gute kommen wird, sowie neuen Zeitschriftenprojekten.

Dass die Investoren ausgerechnet in Berlin und Umland das Anzeigengeschäft in einem bereits sarnierten Unternehmen flott kriegen wollen: Kaum zu glauben.

Egal, interessant ist doch, wessen Geld hier verbrannt wird. Jedenfalls finde ich es nett, dass dieses Geld in den "Standort Deutschland" gepumpt wird. Doch: wirklich nett.

Am Ende werden die beiden übernommenen Zeitungen überlebt haben, deshalb, erstens, weil die Berliner Zeitung solide wirtschaftet, zweitens, weil der Brite und VSS schlechtem Geld gutes hinterher werfen werden, aufgrund ihrer großen Ambitionen am deutschen Zeitungsmarkt. Egal, wie diese glücken: Im Anschluss findet sich für die beiden Zeitungen ein neuer Bräutigam.

Ich verstehe den Kummer nicht, der sich allenthalben rührt. Haben denn die Investoren (was für ein höhnisches Wort für Geldverbrenner) gekauft, um die Zeitungen zu schließen? Wird dies das zwangsläufige Ergebnis sein? Oder ist es einfach nur die Unwilligkeit zur Veränderung, zumal diese Veränderung im Augenblick schwer ausrechenbar ist?

Wenn von den betroffenen Redakteuren gerufen wird: "Presse-Freiheit ist nicht die Freiheit von Finanzjongleuren", dann sehe ich das genau gegenteilig. Auch darin besteht Freiheit!

Wie können wir sicher sein, dass die bösen Finanzinvestoren die Arbeitnehmer und Journalisten nun nach völlig neuen Regeln fernab deutscher Gewohnheiten behandeln werden, zudem mit Hungerlöhnen und Massenentlassungen?

Es muss kein Drama sein, dass über Finanzinvestoren neues Kapital herein kommt und die Vielfalt im deutschen Presse- und Verlagswesen erhöht wird.

Ich verstehe die Aufregung wegen der zu teuer verkauften Braut nicht.

Der Brite Montgomery bekommt seinen Eintritt in den deutschen Boulevard, und der Springerkonzern (BZ u.a.) Konkurrenz.

Meine Trauer hält sich in Grenzen.

21 Oktober 2005

Pipeline-Blogging

Warum wird bei mir immer nur die Blog-Pipeline dicker?

Statt etwas zu posten, arbeite ich allein heute gerade an fünf Beiträgen zugleich. Tja, und es kostet Zeit, z.B. meine Versuche, neuen und hoffentlich längerfristig nutzbaren "Content" zu verfassen, das heißt, recherchieren, Statistiken wälzen, Leuten interviewen usw.

Hrrrmpfff!!

Das sind also heute die Themen/Blog-Beträge, die in meiner Pipeline lauern:

- Alfred Steinherr und das Lohnkosten-Argument
- Mietkostenentwicklung im historischen Vergleich für Durchschnittsfamilien
- Ein Gedankenexperiment, das uns die Wirtschaftswunderzeit zurück bringen soll
- Demografischer Normalisierungsfaktor zum Vergleich von Wachstumsraten
- Werbung lohnt sich: Ich habe heute ein Job"angebot" in einer miesen Versicherungfirma bekommen, nur wenige hundert Kilometer entfernt.
- Mein Frettchen ist heute früh gestorben. Krebs. Schnüff.Ich habe wirklich geheult. In den letzten Tagen wollte mein Frettchen immer nur mit mir kuscheln, stets nur auf meinem Schoß schlafen. Es wusste wohl, dass es zuende geht, und suchte in seinen letzten Tagen und Stunden Wärme. Liebes Frettchen, wenn du ein Engel wirst, bleib bitte in meiner Nähe!

20 Oktober 2005

68 Multikulti und Alexander

Irgendwo in den Untiefen des politischen Internets las ich, dass "Multikulti" eine "Cohn-Benditsche Wahnidee" sei. Es stimmt mich bedenklich, dass Schuldzuweisungen dieser Art tatsächlich zum Credo junger und älterer Konservativer in unserem Land gehören.

Abgesehen davon, dass "die" 68´er kaum für alle Probleme unseres Landes verantwortlich gemacht werden können, tue ich mich schwer mit dem Gedanken, dass eine glückende Integration und das Interesse an anderen Kulturen verdammungswürdig seien.

Ist Herr Cohn-Bendit der Erfinder der Idee des Multikulturalismus? Schwerlich. Der älteste bedeutende Verfechter der Multikulti-Idee war:

Alexander der Große

Aristoteles gab seinem Schüler Alexander in einem Sendschreiben den Rat, Griechen als freie Menschen wie Freunde und Verwandte zu betrachten, die ausländischen Barbaren aber wie Tiere und Pflanzen als Sklaven zu behandeln.

Plutarch berichtet, dass Alexander diesen Rat verworfen habe. Vielmehr habe er sich als Schiedsrichter und Ordner der Menschheit gefühlt, vom Schicksal auserkoren, alle Menschen zu einem einzigen Körper zusammen zu fügen, und die Völker in einem riesigen Mischkrug (melting pot!) der Freundschaft (kratér philotésios) zu vermengen.

Alexander erklärt ähnlich wie Zenon von Kition, man dürfe nicht Griechen und Fremde nach ihrem Gewande und ihren Waffen unterscheiden, sondern Grieche sei, wer anständig und tüchtig sei (areté besitzt), und wer nichts tauge, der sei ein Barbar, gleich welcher Herkunft.

(Quelle und Kauftipp zu 1,99 €: Alexander Demandt: Sternstunden der Geschichte)

16 Oktober 2005

61% Wahlbeteiligung im Irak

Die hohe Wahlbeteiligung, gerade auch in sunnitischen Provinzen ist ein gutes Zeichen. Unabhängig vom Ergebnis der Volksabstimmung: Die 61% sind ein Sieg für die Demokratie im Irak - und die Iraker werden sich dies nicht mehr nehmen lassen. Der alltägliche Terror hat verloren und er wird schon heute von den Irakern immer weniger als legitimer Widerstand betrachtet.

So allmählich wird sich der Irak normalisieren. Jetzt ist es an der Zeit, die deutsche Irakhilfe breit und umfangreich ins Rollen zu bringen, z.B. technische Unterstützung für die Stromversorgung oder für die Ausbildung irakischer Fachleute. Die Iraker werden sich selber helfen wollen - unser Land sollte dabei helfen.

Im Namen von Demokratie, Völkerverständigung und Frieden.

14 Oktober 2005

Ideen zur Weltverbesserung (1) - Permissive Positivliste

Die Arzneipreise steigen stärker an als andere Bereiche der Gesundheitsversorgung, der Arzneimittel"markt" ist von Disfunktionalitäten und teils sogar offener Korruption mannigfaltig geprägt, das sogenannte "freie" Spiel der Marktkräfte funktioniert nicht preisbegrenzend, sondern i.d.R. "rent-seeking". Eine Umstellung auf eine Positivliste würde die Kosten zwar beschränken, sogar sehr stark, aber hat Nachteile bei der Medikamentenentwicklung und Behandlungsfreiheit, außerdem gibt es Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit.

Was also tun?

Permissive Positivliste!

80% der Arzneimittelausgaben von Kassenärzten/Krankenhäusern richten sich nach einer Positivliste, die übrigen 20% bleiben frei.

Problem erkannt - Problem gebannt.

P.S.
Ich verstehe unter "rent-seeking" ein Verhalten von Marktteilnehmern, dass explizit keinen Leistungswettbewerb darstellt, sondern unter Ausnutzung von Kontrollproblemen auf die Erlangung leistungsloser Einkommen gerichtet ist. Ich habe keine Ahnung, ob ich damit der ökonomischen Theorie folge oder ihr an diesem Punkt einen winzigen Schritt voraus bin. Gordon Tullock und Anne Krueger haben diesen Begriff m.E. etwas zu eng gefasst, die Verknüpfung an "moral hazard" halte ich jedenfalls ebenfalls für typisch. Und gerade deshalb: Der Begriff muss etwas weiter gefasst werden, eher im Sin von "Kontrollprobleme ausnutzendes Verhalten zur Umgehung von Leistungswettbewerb, um damit leistungslose Einkommen zu erlangen". Für einen Hobby-Makroökonomen nicht mal so übel, oder?

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13 Oktober 2005

Wohin steuert die deutsche Außenpolitik?

An dieser Stelle nur ein Link: Hier!
Vorsicht: Wer dem Link folgt, sollte Zeit haben...

Medien und Verantwortung - in Zeiten des politischen Kampagnenjournalismus

Interessant fand ich die Bemerkung von Dr. Leister (Achtung: RealAudio!) über das Verhältnis von Medien und Politik, der anlässlich des in Deutschland erstarkten Kampagnenjournalismus sinngemäß meinte:
Es sollte schon so sein, dass die Politik die Vorgaben macht, und dass die Medien dies kommentieren und analysieren, und nicht, dass die Medien Entscheidungen kampagnenartig vorbereiten - und die Politik das nur nachvollzieht. Medien sollten nicht die Politik bestimmen. Es gibt schon mal solche Grauzonen, wo Sie das Gefühl haben, dass die Medien Kampagnen verfolgen, z.B. aus populistischen Gründen, dass die handelnden Personen garnicht mehr frei sind, so sehr mitunter, dass die Medien die Entscheidungen stark vorgegeben.
Ich meine:

Medien sollen Politik transparent machen und dem Bürger helfen, sie zu kontrollieren.

Wenn die Medien dabei zu einseitig und parteiisch werden, ist dies für unsere Demokratie ungünstig. Der Souverän in diesem Prozess sollte der Bürger sein - mit seinen Interessen. Wenn es in diesem Prozess zu Ungleichgewichten kommt und ambitionierte "Meinungsmacher" ihre zweifellos vorhandene Macht konzertiert dazu nutzen, die Republik in ihre Richtung zu manövrieren, so geht das zu weit.

Nicht die Medien sollen die Politik kontrollieren, sondern die Bürger! - und die Medien sollen den Bürger dabei nicht bevormunden, z.B. durch gefärbte Darstellungen. Medien sollen auch Kritik transportieren, aber diese Kritik bitteschön aus den Tiefen der Gesellschaft befördern, ausgewogen, und nicht etwa aus eigenen Partikularinteressen heraus.

Medien sollten im politischen Prozess dem Bürger eine Stimme verleihen - und nicht sich selbst.

Die Informierung über das politische Geschehen in der Republik sollte also möglichst ungefärbt sein, nicht verkürzen und nicht verdrehen, echte Einblicke verschaffen und dabei versuchen, möglichst fair zu sein - und dem Bürger durch diese Zurückhaltung, z.B. bei den Bewertungen des politischen Geschehens, den Freiraum lassen, zu einer eigenen Meinung zu gelangen.

Die überraschend oft hochgradig parteiliche Haltung vieler amerikanischer Medien - Polemik und Schwarz-Weiß-Denken an Stelle neutraler Information, unfaire Darstellungen, Spins und Kampagnen: Dies sollte kein Vorbild sein.

Meinung und Berichterstattung sind scharf zu trennen.

Wenn sich die Partikularinteressen von Verlagsspitzen vornehm zurückhalten, und für Ausgewogenheit und hochqualitative Informationen sorgen, in Anerkennung ihrer Verantwortung, so ist dies ein Gewinn. Alles Übrige geht vom Funktionsmuster her in Richtung Hugenberg-Presse.

Machtmakler

Wer ist Steinmeier? Die SPD hat vor wenigen Stunden bekannt gegeben, wie die SPD-Ministerien besetzt werden und dass er Außenminister wird - und zunächst ist man überrascht.

Man fragt sich: Wo kommt Dr. Frank Walter Steinmeier her? und findet dann heraus: Als Politiker gehört er bislang zur Gattung der Machtmakler und war "der Mann hinter Schröder".

Dazu empfehle ich allerwärmstens diesen Link: hier!

Man erfährt: Ein Machtmakler ist loyal und der Sache verpflichtet, sortiert Informationen, berät, bereitet Entscheidungen vor, organisiert, koordiniert Politik, managed Konflikte und löst Probleme, beeinflusst aber auch politische Schwerpunkte und hat Freiräume zur politischen Gestaltung.

Steinmeier ist quasi "Schröder reloaded".

11 Oktober 2005

Ökonomische Gedankensprengsel (2) - Staatsquote

Staatsquote
Es gehört nicht viel Sachverstand dazu, eine anwachsende Staatsquote als grundsätzliches Wachstums- und Wohlstandshemmnis zu begreifen, erst recht, wenn diese 50% und mehr zu überschreiten droht. Doch der Teufel sitzt wie so oft im Detail.
(Hörtipp und absolut legale MP3-Datei!)

Ist das Geschehen im privaten Sektor stets überlegen effizient?
Nicht alles, was staatlicherseits geschieht, muss hochgradig ineffizient, wohlstandsvermindernd oder sonstwie bürgerfeindlich sein, und nicht alles, was sich im nicht-staatlichen Sektor ereignet, hat tatsächlich großen Wert.

Man sollte dazu - fernab der wirtschaftspolitischen Schützengräben - wissen, dass nicht jeder "Markt" gut funktioniert und nicht jeder Besitz und nicht jedes Einkommen die Ergebnisse eines fairen Leistungswettbewerbs repräsentieren. Ich spreche hier nicht nur von Monopolen oder Bereicherungsprozessen, welche im Wesentlichen auf Disfunktionalitäten des Marktgeschehens beruhen. Oft sind "Marktergebnisse" nur Ausdruck von Macht und genutzter Gelegenheit.

Es lohnt sich, genauer hinzuschauen.

In meine Augen leisten ideologische Ökonomen, die sich vor dem genauen Hinschauen scheuen, z.B. der staatsfeindliche Miegel und der sinnfreie Sinn, kaum mehr, als die zeitgeistige Stimmung in wohlklingende scheinkompetente Worte zu kleiden. Es ist nicht einmal so, dass ich deren Sichtweisen völlig abseitig finde, ich finde nur, dass diese sie sehr einseitige Ansichten haben, teils sogar komplett erblindet sind.

Offene Fragestellungen
Mich verblüfft das kontinuierliche ökonomische Wachstum und der faktische Wohlstand in einzelnen Ländern mit einer sehr hohen Staatsquote (z.B. Dänemark) im Vergleich zu Ländern mit einer niedrigen Staatsquote. Man sollte denken, dass das ökonomische Wachstum (pro Kopf) mit der Staatsquote korrelliert. Ich meine, dass eine sorgfältige Untersuchung einen verlässlichen Zusammenhang finden wird, wobei dann erstens die Ursächlichkeit noch nicht bewiesen ist, weil ja der Zusammenhang auch in die umgekehrte Richtung laufen könnte. Also: Eine niedrige Staatsquote könnte auch als Ergebnis von Wachstum verstanden werden. Zweitens werden sind dann die Ausnahmen von besonderem Interesse - und man kann jetzt schon sagen, dass Dänemark und Neuseeland zwei interessante Ausnahmen darstellen.

Mich verblüfft, dass Neuseeland, welches seine Staatsquote von 60% auf ca. 35% gesenkt hat, fernab der u.a. von der Bertelsmannstiftung verbreiteten Erfolgsmär ein eher unterdurchschnittliches Wachstum aufweist, während Dänemark zur großen Freude seiner Bürger den üppigen Sozialstaat ohne Verringerung der Staatsquote reformierte - und damit bessere Ergebnisse vorweisen kann. Ein spannendes Paradoxon.

Was steckt dahinter, woran liegt das?

10 Oktober 2005

"Du bist Deutschland"

Und liebst du Deutschland? Frage ohne Sinn!
Kann ich mein Haar, mein Haus, mich selber lieben?
Ist Liebe nicht auch Wagnis und Gewinn?
Viel wahllos tiefer bin ich mir selbst verschrieben
Und diesem Land, das ich, ich selber bin

In einer fremden Welt würde all dies nicht gedeihn
In der Fremde würd ich nur mich selbst entwurzeln
Lahm geflügelt hilflos gegen Mauern purzeln
Was wär ich, dürft ich nicht mehr Deutschland sein!

- frei nach Julius Bab -

Okay, das war jetzt kein Spottgedicht zur 30 Millionen schweren Werbekampagne, wie ich es mir ursprünglich vorgenommen habe.

Aber:

Mit der jung-matten schneegetriebenen Erweckungbewegung, welche uns kritiklose Taifunstürme von Leistungsbereitschaft "egal wo du arbeitest" abfordert, ohne dass wir im Gegenzug fragen dürfen, was "die anderen für dich tun", damit hat das eben nichts zu tun.

Als Deutscher hat man ja schließlich auch seine Würde.

Gegenmanifest

Ich bin Deutscher, weil ich hier eingewurzelt bin, in die Sprache, in das Land, in die Menschen um mich herum. Nicht mit blinder Liebe, nicht im Größenwahn des Übertreffen-müssens, nicht mit nationalen Tomaten vor den Augen, aber mit Liebe zu deutscher Vernunft, Toleranz und menschlichem Mitgefühl. Wie andere gute Europäer haben wir eine ausgeprägte Friedensliebe, wir lieben die Freiheit und ich wünsche uns, dass dies auf sehr lange Zeit so bleibt.

Ich erkenne an, dass es grundsätzlich sinnvoller ist, auf eigene Leistungen stolz zu sein, aber ein klein wenig Mitfreude über kollektive Leistungen braucht nicht schädlich zu sein. Jeder wie er mag, ob nun mit patriotischen Gefühlen, ob mehr oder minder heimatverbunden oder auch nicht - bei uns soll jeder nach seiner eigenen Fasson glücklich werden können!

Wir haben uns den Schrecken der Vergangenheit ehrlich und ohne Feigheit gestellt, und wir haben eine humanistische Lehre daraus gezogen. Bei uns steht die Menschenwürde als oberster Wert im Staat fest und alle Staatsorgane sind darauf verpflichtet. Wir streben nach freundschaftlichen Beziehungen zu unseren Nachbarn. Dem Nationalchauvinismus werden wir keinen Raum mehr geben.

Wir haben uns in unserem Haus eingerichtet und pflegen dort einen Sinn für Fortschrittlichkeit, für Bildung, Kultur und Wissenschaft. Bei uns darf man freimütig Kritik üben - und das ist gut so. Mag es auch mal Probleme geben, wir schauen zu, dass wir sie auf eine Weise lösen, dass damit alle vernünftig leben können. Nachhaltigkeit und Fairness zählen zu unserem Wertekanon. Wir werfen unseren Sozialstaat nicht einfach weg, weil die Gier der oberen Zehntausend das von uns verlangt.

Wir sind Deutschland.

09 Oktober 2005

Geheimnisverrat und der Cicero-Fall

Totale Behördengeheimhaltung

Behörden reagieren gegenüber der kritischen Öffentlichkeit kaum so, wie es für eine freie demokratische Geselllschaft wünschenswert ist. Fast immer heißt es, "kein Kommentar" oder "keine Auskunft im laufenden Verfahren". Damit die Gleichschaltungsarbeit in deutschen Behörden nicht ganz so deutlich auffällt, wird man vielleicht noch an "Pressesprecher" verwiesen, zu deren Hauptaufgabe das Schweigen gehört.

Man kann nicht einfach Mitarbeiter eines Amtes oder Referatsleiter befragen. Wenn sie sich äußern, dann haben sie i.d.R. (!) mit harten Konsequenzen zu rechnen, selbstverständlich auch bei Lappalien, denn in eigener Sache lautet der oberste Grundsatz der deuschen Ämter:

Unterdrücken von Information.

Gegenüber der Presse herrscht in deutschen Ämtern heutzutage ein totaler Maulkorbzwang, welcher nur noch mit den Verhältnissen im Dritten Reich verglichen werden kann, nicht jedoch mit der Praxis in europäischen Nachbarländern. Den Bürgern verweigert man ein Informationsfreigabegesetz.

Schlimmer noch, es gibt in allen deutschen Behörden, in Landes- wie in Bundesbehörden die verdeckte, teils offene, Anweisung an Beamte: Keine Auskünfte an Parlamentarier. Und dies wird erschreckend konsequent umgesetzt.

Die Frage lautet: Wie sollen Parlamentarier und eine kritische Öffentlichkeit in einer Demokratie unter diesen Verhältnissen die Kontrollpflicht gegenüber Behörden wahr nehmen?

Wenn die parlamentarische Kontrollarbeit mit der Beschränkung auf ineffizient kleine und große Anfragen praktisch vollständig erdrosselt wird, wenn die demokratische Öffentlichkeit nur durch Zufälle oder Leckagen gelegentliche Informationen erlangt:

Wie können Missstände, z.B. ineffiziente Organisation und Korruption aufgedeckt und in Folge vermindert werden, wenn bei uns bei Behördenangelegenheiten eine so gut wie totale Geheimhaltung von herrscht, sogar gegenüber Parlamentariern?

Es ist z.B. bislang kaum bekannt, dass die zu betreuenden Fälle pro Fallmanager (für HartzIV-linge) seit der sogenannten "Reform" rasant angestiegen sind, dass die zu leistende Vermittlungsarbeit hier fast komplett gebrochen ist - ganz entgegen den Ankündigungen.

Agentur-Mitarbeiter dürfen darüber nicht sprechen, Journalisten können darüber kaum recherchieren, Parlamentarier können nicht an der Fraktion vorbei anfragen und direkt fragen dürfen sie schon garnicht. Ist das für unsere Demokratie gut?

Wollt Ihr die totale Behördengeheimhaltung?

Jetzt neu: "Geheimnisverrat"

Aus den oben angeführten Sorgen heraus ist es in meinen Augen um so bedenklicher, wenn unter dem Vorwand von "Geheimnisverrat" (wie heuchlerisch: als ob es tatsächlich um die Sicherheit unseres Landes ginge) massiv in die Arbeit der freien Presse eingegriffen wird, ganz besonders bei missliebigen Journalisten.

Wenn Presse mehr sein soll als das Wiederkäuen von DPA-Meldungen und Pressemitteilungen von Verbänden und Unternehmen, dann muss unsere Demokratie ein großes Interesse gerade an der freien Arbeit jener Journalisten haben, die noch recherchieren sowie an jenen, die investigativ recherchieren.

Ich habe schon seit Wochen einen Blogbeitrag zum Cicero-Fall in der Pipeline - aber bislang wurde ich nicht einig mit mir. Dazu kam: Mich machten Tonart und Herkunft des Geschreis im Cicero-Fall zögerlich, obwohl ich nicht wenige Bedenken teile. Wenn gerade die manipulativ-gegenaufklärerischen und parteilichen Teile der deutschen Presse laut schreien, dann macht mich das nun einmal vorsichtig. Zudem war mir wichtig, eine Stellungnahme des Bundesinnenministers zu hören, wo er sich seinen schärfsten Kritikern stellt. Wie hier.

Dort sagt Schily:
Ich bin lange genug im politischen Geschäft, um den investigativen Journalismus durchaus positiv zu würdigen. Ich habe auch den SPIEGEL und andere Zeitungen für diese Art des Journalismus immer gelobt und werde das auch weiterhin tun. Aber wo ist hier der Skandal, der aufzudecken ist? Ist es ein Skandal, wenn das Bundeskriminalamt ermittelt wegen Terrorismusgefahr?
Richtig: Es muss abgewogen werden zwischen der konkreten Berechtigung des Geheimhaltungsbedürfnis des Staates und dem Interesse der Öffentlichkeit an kritischer Aufklärung.

Ich meine, dass dies der entscheidende Punkt ist, und dass Schily sowie die ermittelnden Staatsanwälte sowie die beauftragende Behörde gründlich daneben liegen.

Erstens, wenn der fragliche Bericht tatsächlich hochgeheim war (im Sinne von: Geheimhaltung zwecks Schutz des Staates vor Gefahren), warum hatten ihn Hunderte von Behördenmitarbeitern vorzuliegen, wenn das Schutzbedürfnis des Staates an der Geheimhaltung angeblich so überragend war?

Zweitens, worin genau soll die konkrete und überdies strafbare "Beihilfe zum Geheimnisverrat" gelegen haben? Reicht die bloße, ansonsten unbegründete Annahme (wegen einem Leck in einer Behörde), um einem davon profitierenden Journalisten konkrete "Beihilfe" zu einer "Straftat" auf rechtsstaatlich einwandfreie Weise unterstellen zu dürfen?

Drittens, sollte das Erkenntnisinteresse der ermittelnden Staatsanwaltschaft in diesem Fall tatsächlich so weit gehen, dass diesem Journalisten Material weit über diesen Vorfall hinaus beschlagnahmt wird? Ist die Bedrohung des Staates durch die angebliche "Beihilfe zum Geheimnisverrat" so groß, dass es für diesen Journalisten keinen Informantenschutz mehr gibt, egal, was und wo dieser recherchiert? Wurde hier von der Strafverfolgungsbehörde sorgfältig abgewogen und wie hat Schily die Richtung dieser Sorgfalt beeinflusst?

Im Übrigen stimmt es bedenklich, dass der im Interview munter polternde Herr Schily die Pressefreiheit und das Redaktionsgeheimnis auf die gleiche Stufe stellt wie ein nebulöses, nicht näher begründete, staatliches Bedürfnis "seine Sphäre zu schützen". Er müsste erkennen:

Hier verdreht sich das Verhältnis von Souverän und Staat.

Schily ging es nicht um ein nachvollziehbares öffentliches Interesse, es ging ihm nicht um den Schutz der Bürger vor Gefahren, sondern darum, "seine Sphäre" zu schützen.

Fazit

Im Gegensatz zur inzwischen überwiegend parteilichen Presse in unserem Land halte ich Schily nicht für einen Demokratiefeind oder für einen skandalösen Innenminister. Es hätte schlimmer kommen können. Alles in allem hat er recht gute Arbeit geleistet, in meinen Augen etwas zu repressiv und mit zu viel Bürokratisierung verbunden, aber i.d.R. mit Augenmaß und Respekt vor den Freiheitsrechten in unserer Gesellschaft.

Jedoch:

Er hat der Demokratie mit seinem Vorgehen im Cicero-Fall und mit der Vortäuschung, dass es um einen unsere Demokratie gefährdenden "Geheimnisverrat" ginge, einen schlechten Dienst erwiesen. Es steht zu befürchten, dass die unselige und bereits demokratiefeindliche totalitäre Züge aufweisende Behördengeheimhaltung in unserem Staat damit ein neues Machtmittel zur Hand bekommt, nämlich den Verweis auf angeblichen "Geheimnisverrat".

06 Oktober 2005

Ein Brief an Greg Grabinski

Amerika ist ein großes Land.

Dort finden Leute wie Greg ihren Platz, und viele andere auch. Deutschland ist im Vergleich dazu etwas enger. Und im statistischen Durchschnitt ist Amerika reicher. Es gibt in Amerika mit Sicherheit mehr zu entdecken, was für uns Deutsche interessant ist, als umgekehrt.

So weit so schön.

Es gibt darüber hinaus zahlreiche negative Entwicklungen in Deutschland, gerade bei Konservativen in Amerika gilt Deutschland “als der kranke Mann in Europa”. Umgekehrt gibt es eine geradezu verblüffende Deutschlandliebe im demokratischen Teil der amerikanischen Gesellschaft. Außerdem gibt es konservative Amerikaner, die Deutschland mögen, wie auch demokratische Amerikaner, die in Deutschland nur das Land der Nazis sehen.

So wie Greg, immer hübsch einseitig. Er hat einen "amerikanischen Blick", und beklagt sich in einem jammernden bis tollwütigen Ton über die stets unfaire Amerika-Berichterstattung. Das ist seine Mission. Da ist er verflucht stolz darauf. Und auf seine intensive Deutschland-Skepsis. Daraus besteht die Luft im Schaum vor seinem Mund; Deutschland ist für ihn das Land der Anti-Amerikaner.

Letztlich ändert all das nicht viel daran, dass die meisten Deutschen eine ausgeprägte Sympathie für Amerikaner haben, und es ändert auch nichts daran, dass es in der amerikanischen Gesellschaft große Probleme gibt, so wie es auch in Deutschland große Probleme gibt.

Während wir kaum wissen, wie wir die nächsten Jahre das System der Krankenversicherung erhalten können, wissen die Amerikaner kaum, wie man am besten mit dem Umstand umgeht, dass es bereits 40 Mio schutzlose Amerikaner gibt ohne Krankenversicherung. Insgesamt scheint das deutsche System effektiver und sicherer zu sein (was u.a. auch an den weit geringeren Rechtskosten und Klagegefahren liegt), ohne dass die Qualität der gesundheitlichen Versorgung schlechter wäre - eher das Gegenteil ist der Fall. Man ist in Deutschland in diesem Politikfeld sozusagen ziemlich ratlos, aber trotzdem irgendwie besser.

Das ist nur ein Beispiel.

Umgekehrt wissen die Deutschen nicht, wie sie die schnell ausbrechende Trägheit unter den Beziehern von Unterstützungsleistungen eindämmen können. Das “ich-werde-vom-Staat-versorgt”-Denken vieler Deutscher ist ein schwerer Malus für unserere ökonomische Entwicklung, die vielen Subventionen kommen hier noch hinzu und übertreffen in ihrer Summe sogar die Aufwendungen für Arbeitslose und Sozialhilfe. Auch wenn man gut begründet meinen könnte, dass die hohe Gewaltkriminalität in der amerikanischen Gesellschaft (man vergleiche die Zahl der Opfer von Gewaltdelikten pro Kopf) zum Teil auch Ausdruck einer unterentwickelten Sozialstaatlichkeit in den USA ist - wir Deutschen werden nur in Ausnahmefälle guten Rat geben könnem, was bei diesen vertrackten Problemen in den USA am Besten anzustellen wäre.

Wir Deutschen sind insgesamt weniger risikobereit und neigen zur Angst, ganz besonders auch davor, dass das Individuum schutzlos sein könnte wie bei es bei unerfreulich vielen in den USA der Fall ist. In dieser Angst - egal wie begründet diese nun tatsächlich ist - suhlen sich nicht wenige, und Greg reibt sich wiederum an denen, die gegenüber den USA bzw. den Verhältnissen dort eine unsachliche Position einnehmen.

Deshalb betreibt er sogar einen Blog, es liegt ihm sehr am Herzen.

Er wittert überall “Anti-Amerikanismus” bis hin zu Überbleibseln nazistischer Gesinnung. Er hat recht, wenn er meint, dass die positiven Berichte über Amerika ein zu geringes Gewicht in der Presse haben, aber er übersieht, dass das z.B. auch für die Berichterstattung über Russland, Sri Lanka oder China gilt. Okay, die USA sind nicht Russland, Sri Lanka und China. Big point for Greg. Es ist dennoch nur bei den wenigsten “Anti-Amerikanismus”, sondern hat mehr mit Besorgnis und dazu einem merklichen Auseinanderdriften des Wertehorizontes auf beiden Teilen des Atlantiks zu tun.

Wer in den USA ein “strong republican” ist, der würde bei uns ohne jegliches Problem als Faschist gelten. Rush Limbaugh könnte sich mit seiner Art in deutschen Medien, egal wo, keine zwei Monate halten. Und das ist gut so. Weniger gut ist es hingegen, wenn der deutsche Blick auf Amerika meint, dass es dort sehr häufig oder generell so zugehe wie beim Beinahe-Faschisten Rush Limbaugh.

Und doch gibt es in den amerikanischen Medien trotz aller Vielfalt einige Probleme, die Pressefreiheit scheint nicht immer das zu sein, was sie sein sollte. Verleger und Interessengruppen haben einen teils gefährlichen und geradezu anti-aufklärerischen Kurs aufgenommen. Ich würde darüber aber niemals mit Greg sprechen, denn seine Seele könnte dabei Verwundung erleiden.

Das kann man nicht wollen, ob man Grets Position nur für völlig überdreht hält oder auch nicht. Von meiner Seite aus wünsche ich Greg vor allem Seelenfrieden. Tatsächlich.

Seelenfrieden. Vielleicht sogar eine Prise deutscher Harmonie und ausgewogenes, modern-effektives und nicht wirtschaftsfeindliches Sozialstaatsdenken (zusätzlich zu anderen guten Dingen, gerne auch außerhalb Deutschlands).

Ich wünsche ihm unseren Absolutismus, wenn es um die Würde des Menschen geht (welche wir im Grundgesetz u.a. amerikanischen Quäkern verdanken - und darüber hinaus der Befreiungsleistung von Amerika/Russland im 2nd Weltkrieg! Und dazu kommt die riesige und unvergessliche Hilfe der Amerikaner beim Aufbau unserer Demokratie.) Und uns wünsche ich mehr Ausgewogenheit, noch mehr Sinn für Vernunft und mehr Konsequenz, wenn es um die Menschenwürde geht.

Bleib gesund, Greg!

03 Oktober 2005

9. November 1989

Warum ausgerechnet heute, am 03. Oktober der Tag der deutschen Einheit begangen wird? Vielleicht hängt das mit einem gewissen Misstrauen der offiziellen Politik gegenüber der Bevölkerung zusammen, welche die Geschichte am 9.November selbst in die Hand nahm.

Für uns Deutsche ist und bleibt der 9. November 1989 der entscheidende Tag, besonders für die Deutschen, die damals dabei waren. Ich erzähl gleich eine kleine Geschichte dazu, aber erstmal erzähle ich von einem Behinderten. Das muss sein.

Rede eines Sprachbehinderten

Es war 1985 oder 1986, und aus jugendlicher Neugier heraus besuchte ich eine Vollversammlung der Alternativen Liste. So sehr spannend war das erstmal nicht, nur lustig, dass alle Anwesenden, also auch ich, Stimmrecht hatten. Für mich verlief das Ganze trotz des sehr bunten Volkes ziemlich diszipliniert, und dazu völlig vorhersehbar, denn der damals übliche Gegensatz zwischen Realos und Fundis zog sich über alle Tagesordnungspunkte. Kannte man das Lager, wusste man, was gesagt wurde.

Dann kam ein Punkt, wo sich alle einig waren, man wollte nämlich die DDR als legitimen Staat anerkennen, den Gedanken der Wiedervereinigung auf ewig als unrealistisch und zugleich kontraproduktiv brandmarken oder so. Die zähe Szenerie wurde nun plötzlich doch interessant, und zwar deshalb, weil ein Behinderter samt Rollstuhl auf die Rednerbühne gewuchtet wurde, ich glaube Norbert hieß er.

Norbert war gut und deutlich zu hören, mit einer tiefen durchdringenden Stimme, die Mikrofonanlage tat ihr erdenklich Bestes. Nur leider konnte man Norbert kaum verstehen, denn er war nicht nur Rollstuhlfahrer, sondern auch sprachbehindert. Das war bestensfalls unzusammenhängendes Gestammel. Niemand verstand ihn, vielleicht nur seine Betreuer. Man wollte ihn nach zwei Minuten von der Bühne zerren, er wollte nicht. Er wehrt sich, erfolgreich, seine Rede war nicht zuende. Er wurde lauter, sehr viel lauter und noch durchdringender, und plötzlich wurde ich Zeuge der besten politischen Rede, die in Deutschland jemals gehalten wurde.

Sein Stammeln war immer noch störend, aber, was er sagte, wurde verständlich. Gleichzeitig formulierte er Sätze, die in die Versammlung wie ein 100-Tonnen-Gewicht einschlugen. Das allgemeine Gemurmel verstummte schlagartig, alle im Saal hörten wie gebannt dem Sprachbehinderten zu, selbst diejenigen, die ihn immer noch nicht verstanden, spürten, dass da etwas vor sich ging.

Ich bekomme seine Rede nicht mehr zusammen, aber er sprach z.B. davon, dass die Menschen in der DDR unterdrückt werden und dass es nicht Okay ist, wenn eine emanzipatorische Partei das akzeptiert. Mit seiner warmen und leidenschaftlichen Stimme dröhnte er uns bis in die Knochen, dass es eben keine gute Sache sei, wenn Familien getrennt sind, und er sprach davon, dass es völlig egal sein wird, was die AL an diesem Abend beschließt, denn das wird den Wunsch der Deutschen nach einer Wiedervereinigung nicht verändern und das Volk sei in dieser Frage der unangreifbare Souverän. Wie gesagt, ich bekomme seine Rede nicht mal ansatzweise zusammen, aber so ziemlich der ganze Saal war tief beeindruckt, denn er formulierte auf überragend überzeugende Weise.

Christian Ströbele erschien am Podest, seine nervösen Züge und leichte Gesichtszuckungen zeigten, dass er sich herausgefordert sah, und man zerrte Norbert vom Mikrofon, aber nicht, bevor Norbert noch ein "Christian, auch du wirst die Wiedervereinigung nicht aufhalten" ins Mikrofon donnerte, diesmal gar nicht mehr stammelnd.

Zusammen mit Norberts Rede zuvor verschlug dies Ströbele erst einmal die Sprache. Ich weiß nicht mehr genau, wie die Abstimmung dann ausging, ich glaube, es war knapp, und viele im Saal waren unabhängig davon, wie sie gestimmt hatten, nachhaltig von seiner Rede berührt.

Ich erzähle das deshalb, weil mich dieses Ereignis einfach geprägt hat, angefangen damit, einen Sprachbehinderten auf einer großen Versammlung reden zu lassen, bis dahin, dass Norbert in diesem Punkt mein Denken prägte. War ich vorher noch unentschieden, ob eine Wiedervereinigung oder ein Miteinander das Ziel sein sollte, so verschwand diese Unentschiedenheit an diesem Abend.

Es war eine gute Rede.

Der 09.November 1989

Mein Telefon klingelte, Sebastian war dran, und garnicht so cool wie sonst. Hast du Fernsehen gesehen, fragte er mich. Nein. Ich komm gleich vorbei, meinte er, ich bringe Sekt mit. Und ich machte erstmal das Radio an, was denn da los sei.

Ja, ich kann mich noch genau daran erinnern, auch mich ergriffen die Meldungen dieses Tages, und zwar mit dem ersten Satz des Nachrichtensprechers. Wenige zehn Minuten später stand Sebastian vor meiner Tür, wir köpften den Sekt und überlegten, was wir jetzt machen. Keine Frage, meinte ich, wir fahren zum Grenzübergang Invalidenstraße.

Die Menschenmenge, die Bilder, all dies hat jeder in Erinnerung. Es war vielleicht nicht so dramatisch wie auf den Fernsehbildern und doch war es so. Fröhlich hupende Autos kamen uns entgegen und wir stellten uns auf den Tritt einer großen grünen Polizeiwanne, um hineinzuschauen, dort, wo der dicke und damals bereits ziemlich wirre Walter Momper saß. Im Mannschaftswagen sitzend, am Mikrofon sich festklammernd, versuchte Momper die Menschen zu beruhigen, schwitzte in unvorstellbarer Weise. Da kamen Schwachheiten wie "Leute, geht nach Hause, hier gibt es nichts zu sehen!". Aber erstens, war die Lautstärke der Sprechanlage ziemlich gering, sodass das kaum jemand mitbekam, zweitens hätte es sowieso niemanden interessiert.

Sebastian und mir war es zu wenig, die jubelnd aus der DDR hervorbrechenden Menschen zu sehen und zu beglückwünschen, wir überlegten, wie wir da rein kommen, mitten hinein in die DDR. Da links! Da war tatsächlich ein kleines Loch im Zaun, und man konnte an einer Brandmauer entlang, unbemerkbar von den völlig überforderten Grenzern, sich auf den Weg in nach Ostberlin machen. Sebastian, stets abenteuerfreudig, fand es ja noch ganz lustig, auf diese Weise an den Grenzern vorbei gekommen zu sein. Aber, als der Fernsehturm schon nach wenigen hundert Metern auf der Invalidenstraße unerwartet näher rückte, da bekam Sebastian es mit der Angst zu tun. So sind wir halt auf dem gleichen Weg wieder in den Westen zurück geklettert. Das war ein komisches Gefühl, fast konnte man denken, dass dieser Weg die ganzen Jahre offen stand.

Erstsemester

Nächsten Tag hatte ich ganztägig eine Horde von 25 Erstsemestern zu betreuen und für mich war klar, was ich vorhatte. Ich erklärte den verdutzten Erstsemestern, dass wir zu Feier des Mauerfalls einen Freundschaftsbesuch im Osten vornehmen werden. Los gehts!
(Erstsemester sind unfassbar folgsam)

So standen wir kaum 30 Minuten später an der Invalidenstraße und ich bugsierte meine Erstsemester durch das Loch im Zaun in den Osten, vorbei an den Grenzern, die unsere Horde nicht bemerkten. Frechheit siegt.

Wir steuerten, warum ist mir bis heute völlig unklar, auf direktem Weg die Humboldt-Uni an, und dort den Studentenclub. Ich meinte, als wir dort ankamen, dass da die Treppe runter ein
Studentenclub sein müsste. Bitte frage mich niemand, wie ich auf die Idee kam, ich weiß es einfach nicht. Wir klingelten und im DDR-Kommando-Ton wurde nach dem Studentenausweis gefragt. "Die Studentenausweise bitte!"

Bitteschön.

"Was ist denn daas?" fragte mit Schreck, wenn nicht sogar mit Entsetzen die Einlasskontrolle, ich strahlte ihn fröhlich an, "das ist ein Studentenausweis". Er meinte, "Der ist ja garnicht grün" und bekam dann zu hören "Es gibt ab heute auch blaue Studentenausweise, wir sind von der FU Berlin, freie, FREIE Universität Berlin". Ein paar Wortwechsel später waren wir drin.

Der trübe Wandschmuck und das deutlich spürbare Misstrauen unter den bisherigen Gästen konnten nicht überdecken, dass dies ein Feiertag war. Oh G~tt! Nie wieder wird man mich auf einem Foto mit einer derart blöden Fresse sehen! Wer den Kanzler am Wahlabend für übermütig und siegestrunken hielt, der hat mich da nicht gesehen. Ich sah noch aufgedrehter aus als eine Kreuzung aus M. Friedman und Schröder, zu deren übergedrehtesten Zeiten. Egal, meine Erstsemester hatten ihren Spaß, wir feierten, die Getränke waren günstig, die Musik wurde ganz nach Wunsch gespielt.

Die bisherigen Besucher schämten sich nicht wenig, hatte wohl auch Angst, in unserer Nähe erwischt zu werden, und fast jeder HU-Student, den wir ansprachen, flüchtete umgehend. Woher kommt diese Horde FU-Studenten? Was sagt die Partei dazu? Was ist hier los? Bricht hier alles zusammen? Irgendwarum erschien es dem ostzonalen Stammpersonal wie eine feindliche Übernahme.

Und irgendwie war es das ja auch.

Lieber Leser, wer mal einen derart miefigen Parteikeller gesehen hat, der wird nicht sonderlich traurig sein, dass das "andere System" weitgehend spurlos unterging. Vielleicht wäre etwas Geduld besser gewesen, vielleicht aber wäre das eine Illusion gewesen und das Fenster der Geschichte hätte sich wieder verschlossen.

Nicht die Probleme von heute, sondern die zahlreichen krummen Machenschaften in und im Umfeld der Treuhandbehörde sind die eigentlichen Skandale der Wiederveinigung. Kaum ein einziger abgeschlossener Vertrag wurde eingehalten! Als ob es normal ist. Das System Kohl.

Und diese blöde Behörde schwieg dazu, zugunsten einer Immobilien raubenden "Wirtschaftselite" statt die Rechte seiner Bürger durchzusetzen - auch daran muss erinnert werden.

Am Tag der deutschen Einheit.

02 Oktober 2005

Zwei Victor-Klemperer-Zitate

Dies hier ist mein Lieblingszitat:
Das Vernünftigste ist immer, sich zu sagen:
Vielleicht doch! - und danach zu handeln.
Für alle Tagebuchschreiber u.a.:
So erlebt man Geschichte: Wir wissen vom Heute noch weniger als vom Gestern und nicht mehr als vom Morgen.