9. November 1989
Warum ausgerechnet heute, am 03. Oktober der Tag der deutschen Einheit begangen wird? Vielleicht hängt das mit einem gewissen Misstrauen der offiziellen Politik gegenüber der Bevölkerung zusammen, welche die Geschichte am 9.November selbst in die Hand nahm.
Für uns Deutsche ist und bleibt der 9. November 1989 der entscheidende Tag, besonders für die Deutschen, die damals dabei waren. Ich erzähl gleich eine kleine Geschichte dazu, aber erstmal erzähle ich von einem Behinderten. Das muss sein.
Rede eines Sprachbehinderten
Es war 1985 oder 1986, und aus jugendlicher Neugier heraus besuchte ich eine Vollversammlung der Alternativen Liste. So sehr spannend war das erstmal nicht, nur lustig, dass alle Anwesenden, also auch ich, Stimmrecht hatten. Für mich verlief das Ganze trotz des sehr bunten Volkes ziemlich diszipliniert, und dazu völlig vorhersehbar, denn der damals übliche Gegensatz zwischen Realos und Fundis zog sich über alle Tagesordnungspunkte. Kannte man das Lager, wusste man, was gesagt wurde.
Dann kam ein Punkt, wo sich alle einig waren, man wollte nämlich die DDR als legitimen Staat anerkennen, den Gedanken der Wiedervereinigung auf ewig als unrealistisch und zugleich kontraproduktiv brandmarken oder so. Die zähe Szenerie wurde nun plötzlich doch interessant, und zwar deshalb, weil ein Behinderter samt Rollstuhl auf die Rednerbühne gewuchtet wurde, ich glaube Norbert hieß er.
Norbert war gut und deutlich zu hören, mit einer tiefen durchdringenden Stimme, die Mikrofonanlage tat ihr erdenklich Bestes. Nur leider konnte man Norbert kaum verstehen, denn er war nicht nur Rollstuhlfahrer, sondern auch sprachbehindert. Das war bestensfalls unzusammenhängendes Gestammel. Niemand verstand ihn, vielleicht nur seine Betreuer. Man wollte ihn nach zwei Minuten von der Bühne zerren, er wollte nicht. Er wehrt sich, erfolgreich, seine Rede war nicht zuende. Er wurde lauter, sehr viel lauter und noch durchdringender, und plötzlich wurde ich Zeuge der besten politischen Rede, die in Deutschland jemals gehalten wurde.
Sein Stammeln war immer noch störend, aber, was er sagte, wurde verständlich. Gleichzeitig formulierte er Sätze, die in die Versammlung wie ein 100-Tonnen-Gewicht einschlugen. Das allgemeine Gemurmel verstummte schlagartig, alle im Saal hörten wie gebannt dem Sprachbehinderten zu, selbst diejenigen, die ihn immer noch nicht verstanden, spürten, dass da etwas vor sich ging.
Ich bekomme seine Rede nicht mehr zusammen, aber er sprach z.B. davon, dass die Menschen in der DDR unterdrückt werden und dass es nicht Okay ist, wenn eine emanzipatorische Partei das akzeptiert. Mit seiner warmen und leidenschaftlichen Stimme dröhnte er uns bis in die Knochen, dass es eben keine gute Sache sei, wenn Familien getrennt sind, und er sprach davon, dass es völlig egal sein wird, was die AL an diesem Abend beschließt, denn das wird den Wunsch der Deutschen nach einer Wiedervereinigung nicht verändern und das Volk sei in dieser Frage der unangreifbare Souverän. Wie gesagt, ich bekomme seine Rede nicht mal ansatzweise zusammen, aber so ziemlich der ganze Saal war tief beeindruckt, denn er formulierte auf überragend überzeugende Weise.
Christian Ströbele erschien am Podest, seine nervösen Züge und leichte Gesichtszuckungen zeigten, dass er sich herausgefordert sah, und man zerrte Norbert vom Mikrofon, aber nicht, bevor Norbert noch ein "Christian, auch du wirst die Wiedervereinigung nicht aufhalten" ins Mikrofon donnerte, diesmal gar nicht mehr stammelnd.
Zusammen mit Norberts Rede zuvor verschlug dies Ströbele erst einmal die Sprache. Ich weiß nicht mehr genau, wie die Abstimmung dann ausging, ich glaube, es war knapp, und viele im Saal waren unabhängig davon, wie sie gestimmt hatten, nachhaltig von seiner Rede berührt.
Ich erzähle das deshalb, weil mich dieses Ereignis einfach geprägt hat, angefangen damit, einen Sprachbehinderten auf einer großen Versammlung reden zu lassen, bis dahin, dass Norbert in diesem Punkt mein Denken prägte. War ich vorher noch unentschieden, ob eine Wiedervereinigung oder ein Miteinander das Ziel sein sollte, so verschwand diese Unentschiedenheit an diesem Abend.
Es war eine gute Rede.
Der 09.November 1989
Mein Telefon klingelte, Sebastian war dran, und garnicht so cool wie sonst. Hast du Fernsehen gesehen, fragte er mich. Nein. Ich komm gleich vorbei, meinte er, ich bringe Sekt mit. Und ich machte erstmal das Radio an, was denn da los sei.
Ja, ich kann mich noch genau daran erinnern, auch mich ergriffen die Meldungen dieses Tages, und zwar mit dem ersten Satz des Nachrichtensprechers. Wenige zehn Minuten später stand Sebastian vor meiner Tür, wir köpften den Sekt und überlegten, was wir jetzt machen. Keine Frage, meinte ich, wir fahren zum Grenzübergang Invalidenstraße.
Die Menschenmenge, die Bilder, all dies hat jeder in Erinnerung. Es war vielleicht nicht so dramatisch wie auf den Fernsehbildern und doch war es so. Fröhlich hupende Autos kamen uns entgegen und wir stellten uns auf den Tritt einer großen grünen Polizeiwanne, um hineinzuschauen, dort, wo der dicke und damals bereits ziemlich wirre Walter Momper saß. Im Mannschaftswagen sitzend, am Mikrofon sich festklammernd, versuchte Momper die Menschen zu beruhigen, schwitzte in unvorstellbarer Weise. Da kamen Schwachheiten wie "Leute, geht nach Hause, hier gibt es nichts zu sehen!". Aber erstens, war die Lautstärke der Sprechanlage ziemlich gering, sodass das kaum jemand mitbekam, zweitens hätte es sowieso niemanden interessiert.
Sebastian und mir war es zu wenig, die jubelnd aus der DDR hervorbrechenden Menschen zu sehen und zu beglückwünschen, wir überlegten, wie wir da rein kommen, mitten hinein in die DDR. Da links! Da war tatsächlich ein kleines Loch im Zaun, und man konnte an einer Brandmauer entlang, unbemerkbar von den völlig überforderten Grenzern, sich auf den Weg in nach Ostberlin machen. Sebastian, stets abenteuerfreudig, fand es ja noch ganz lustig, auf diese Weise an den Grenzern vorbei gekommen zu sein. Aber, als der Fernsehturm schon nach wenigen hundert Metern auf der Invalidenstraße unerwartet näher rückte, da bekam Sebastian es mit der Angst zu tun. So sind wir halt auf dem gleichen Weg wieder in den Westen zurück geklettert. Das war ein komisches Gefühl, fast konnte man denken, dass dieser Weg die ganzen Jahre offen stand.
Erstsemester
Nächsten Tag hatte ich ganztägig eine Horde von 25 Erstsemestern zu betreuen und für mich war klar, was ich vorhatte. Ich erklärte den verdutzten Erstsemestern, dass wir zu Feier des Mauerfalls einen Freundschaftsbesuch im Osten vornehmen werden. Los gehts!
(Erstsemester sind unfassbar folgsam)
So standen wir kaum 30 Minuten später an der Invalidenstraße und ich bugsierte meine Erstsemester durch das Loch im Zaun in den Osten, vorbei an den Grenzern, die unsere Horde nicht bemerkten. Frechheit siegt.
Wir steuerten, warum ist mir bis heute völlig unklar, auf direktem Weg die Humboldt-Uni an, und dort den Studentenclub. Ich meinte, als wir dort ankamen, dass da die Treppe runter ein
Studentenclub sein müsste. Bitte frage mich niemand, wie ich auf die Idee kam, ich weiß es einfach nicht. Wir klingelten und im DDR-Kommando-Ton wurde nach dem Studentenausweis gefragt. "Die Studentenausweise bitte!"
Bitteschön.
"Was ist denn daas?" fragte mit Schreck, wenn nicht sogar mit Entsetzen die Einlasskontrolle, ich strahlte ihn fröhlich an, "das ist ein Studentenausweis". Er meinte, "Der ist ja garnicht grün" und bekam dann zu hören "Es gibt ab heute auch blaue Studentenausweise, wir sind von der FU Berlin, freie, FREIE Universität Berlin". Ein paar Wortwechsel später waren wir drin.
Der trübe Wandschmuck und das deutlich spürbare Misstrauen unter den bisherigen Gästen konnten nicht überdecken, dass dies ein Feiertag war. Oh G~tt! Nie wieder wird man mich auf einem Foto mit einer derart blöden Fresse sehen! Wer den Kanzler am Wahlabend für übermütig und siegestrunken hielt, der hat mich da nicht gesehen. Ich sah noch aufgedrehter aus als eine Kreuzung aus M. Friedman und Schröder, zu deren übergedrehtesten Zeiten. Egal, meine Erstsemester hatten ihren Spaß, wir feierten, die Getränke waren günstig, die Musik wurde ganz nach Wunsch gespielt.
Die bisherigen Besucher schämten sich nicht wenig, hatte wohl auch Angst, in unserer Nähe erwischt zu werden, und fast jeder HU-Student, den wir ansprachen, flüchtete umgehend. Woher kommt diese Horde FU-Studenten? Was sagt die Partei dazu? Was ist hier los? Bricht hier alles zusammen? Irgendwarum erschien es dem ostzonalen Stammpersonal wie eine feindliche Übernahme.
Und irgendwie war es das ja auch.
Lieber Leser, wer mal einen derart miefigen Parteikeller gesehen hat, der wird nicht sonderlich traurig sein, dass das "andere System" weitgehend spurlos unterging. Vielleicht wäre etwas Geduld besser gewesen, vielleicht aber wäre das eine Illusion gewesen und das Fenster der Geschichte hätte sich wieder verschlossen.
Nicht die Probleme von heute, sondern die zahlreichen krummen Machenschaften in und im Umfeld der Treuhandbehörde sind die eigentlichen Skandale der Wiederveinigung. Kaum ein einziger abgeschlossener Vertrag wurde eingehalten! Als ob es normal ist. Das System Kohl.
Und diese blöde Behörde schwieg dazu, zugunsten einer Immobilien raubenden "Wirtschaftselite" statt die Rechte seiner Bürger durchzusetzen - auch daran muss erinnert werden.
Am Tag der deutschen Einheit.
3 Comments:
Interessante Eindrücke.
Aber dass es nicht der 9. November geworden ist, dürfte wohl eher daran liegen, dass dieser Tag historisch ein wenig "besetzt" ist.
Und ja, viele Ostdeutsche haben das ihre beigetragen, aber es bleibt dabei: Die wahren Helden kommen aus Polen (sofern es die einfachen Leute betrifft) und aus Ungarn (sofern es die Führung betrifft). Damit war der Stöpsel gezogen.
Dich hätte ich kennen damals kennen sollen. Ich stand vor dem Grenzübergang Sonnenallee, alle kamen rein (nach West-Berlin) und ich nicht ein (nach Ost-Berlin). Die 7 jahre zuvor, durfte ich nicht in die DDR einreisen, seit 2 Jahren (Gauck-Behörde) weiss ich auch warum. Was hätte ich gegeben, da am 9.11. reinzukommen. So war für mich der eigentliche Mauerfall der 22.12., der Tag an dem die Grenzen für die Wessis aufgemacht wurde.
@ Strappato
Richtig aufregend war die Rückkehr. Mir war zwar völlig klar, dass unsere "Reisegruppe" problemlos raus kommt - aber dass die Grenze abends wieder von den Vopos für die DDR-Bürger dicht gemacht wurde, führte dazu, dass sich unserer Gruppe ein Pärchen anschloss, weil es Angst hatte, nun doch nicht mehr aus der DDR rauszukommen. Da stand ich also mit 25 Erstis, 2 auszuschmuggelnden DDR-Bürgern und suchte mir aus rund einem Dutzend ziemlich langer und penibel kontrollierter Rückreiseschlangen diejenige Schlange aus, wo der Vopo besonders gutmütig aussah. Tatsächlich wurden wir nach kurzer Verhandlung ("wirklich alle aus Westberling? Ja!") en bloc duchgewunken, mit dem kurzzeitigen Ergebnis, dass mich das DDR-Pärchen für einen Helden hielt. Sozusagen "Held der Grenze". Dass der Lauf der Geschichte nicht mehr aufzuhalten war, wusste das Pärchen noch nicht. Umso glücklicher waren sie, endlich Westluft zu atmen.
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