Radikaler Kapitalismus als Religion
Ich weise hier auf ein Essay von Wolfgang Palaver in Cicero hin, das sich mit den religiösen Strukturen in der Ideologie des Kapitalismus beschäftigt. Meiner Meinung nach, argumentiert Herr Palaver begrifflich nicht genau genug, und "palavert" zuviel, dennoch bietet sein Essay eine Reihe von Anregungen.
Vom Übel eines radikalisierten Kapitalismus und seiner kindischen Irrlehre
Der Glaube, ein radikalisierter Kapitalismus könne gleichermaßen Erlösung wie Ziel allen gesellschaftlichen Strebens repräsentieren, und auch der Kinderglaube daran, dass "der" Markt in jedem Fall die richtigen Antworten kenne, hat eine quasireligiöse Komponente. Diese kann bei Adam Smith sogar präzis benannt werden.
Tatsächlich aber funktionieren Märkte nur unter bestimmten Bedingungen gut, und die Anstrengung radikaler Kapitalismusjünger, Fehlfunktionen und Mängel kleinzureden oder zu verleugnen, gerade auch im wirtschaftswissenschaftlichen Lager, macht deutlich, dass man es bei diesem radikalisierten Glaubenssystem mit einem religionsähnlichen Konstrukt zu tun hat, inklusive theologischer Abwehrmechanismen und beharrlicher Wirklichkeitsverleugnung.
Auf gesamtgesellschaftliche Ebene angewendet ignoriert der totale Marktglaube nicht nur die häufig auftretenden Funktionsmängel, welche mangels besserer Alternativen ggf. zu erdulden sind, sondern auch, welchen starken Einfluss die ungleichen Startchancen und ungleichen Vermögensverhältnisse in einer marktwirtschaftlich dominierten Ordnung ausüben.
Z.B. verfestigen (!) derartige Ungleichheiten gesellschaftliche Privilegien.
Die Gesellschaft als Ganze wird damit, erst recht im weltweiten Maßstab, auch als Resultat des radikalkapitalistischen Kinderglaubens in vielen Bereichen unerträglich ungerecht, und dies zu allen Überfluss auch noch (meist) in einem zunehmenden Ausmaß. Dazu kommt: Eine grobe Ungleichverteilung, betrachtet man dies als starken, gerechte Märkte deformierenden Einflussfaktor, führt zu gröbsten Fehlallokationen (!) des Marktprozesses selbst, was sich der geneigte Leser z.B. anhand des eigentlich idiotischen Marktes für Luxusjachten verdeutlichen kann.
Der Kinderglaube an die "unsichtbare Hand" ist somit falsifiziert, und die Kapitalismuskritik von Marx an durchaus bedeutenden Punkten bestätigt. Marx hatte sich zwar in vielerlei Hinsicht geirrt, aber sein Blick auf ökonomische Entwicklungen unter dem Aspekt von Macht- und Verteilungskämpfen und Ausbeutung hat auch heute Aktualität.
Denn während wir uns als Gesellschaft heute teils in einem Prozess der Refeudalisierung und sogar allgemeinen faktischen Entdemokratisierung befinden, mit Großunternehmen und Familienclans an der Spitze dieses Prozesses, lässt sich erkennen, dass eben die Mächtigen und Wohlhabenden sich erfolgreich darum bemühen, ihre Vormachtstellung ökonomisch und politisch abzusichern, und zwar frei von jeglicher Bedrohung durch Leistungswettbewerb.
Dies zeigt sich ökonomisch z.B. an den immer stärker werdenden Versuchen, sich leistungslose Einkommen zu sichern (z.B. via Patent- und Urheberrecht), aber auch im fortschreitenden Privatisierungswahn (beispielsweise verschenkte (!) der Berliner Senat große und viele hundert Million Euro wertvolle Grundstücke an Großfirmen wie Karstadt) , oder auf politische Weise darin, dass private Machteliten mittels der systematischen Beeinflussung der Öffentlichkeit (z.B. über Propagandafabriken) die Vormachtstellung ihrer Wohlstandsbasis (hier: Krieg und Rüstung) absichern.
Wir erleben zur Zeit eine "privatwirtschaftliche" Durchdringung des Staats- und Gesellschaftsgebildes, welche oft eben nicht Ausdruck irgendwelcher positiver Marktleistungen ist, sondern im Gegenteil, auf die Aushebelung von Markt- und demokratischen Kontrollmechnanismen abzielt, auf exklusive wie sichere Gewinne gesellschaftlicher Eliten auf Kosten der übrigen Bevölkerung.
Parallel dazu laufend wird nebenbei (wie m.E. unbeabsichtigt) über die Einschränkung gesellschaftlicher Chancengleichheit eine immer stärkere Trennung der Gesellschaft in Klassen verursacht, bis hin zur Ausbildung eines Prekariats, was für den übrigen abhängigen Teil der Gesellschaft in Verbindung mit Abstiegsängsten eine disziplinierende bzw. einschüchternde Funktion hat.
Ebendiese auf Machtmaximierung und leistungslose Einkommensgarantierung zielenden Mechanismen einer marktwirtschaftlich dominierten Gesellschaft sind, anders als es "liberale" Theoretiker wie Hayek vorgegeben haben, nicht etwa höchst seltene und überdies unbeachtliche Entartungserscheinungen des Marktprozesses, sondern ein unmittelbarer und bedeutender Teil des damit fragilen Marktprozesses.
Grundlegender formuliert: Lassen sich in Märkten Machtungleichgewichte für Einkommenszwecke mobilisieren, so wird genau dies geschehen, sofern es hier (z.B. über einen starken und Missbrauch verhindernden Staat) keine ausreichenden Gegenkräfte gibt. Es ist ein unbewiesener und oft schon widerlegter Kinderglaube, dass marktmäßige Vermachtungen, z.B. Monopole oder machtungleiche Vertragsbeziehungen, im Rahmen von Marktprozessen automatisch korrigiert werden.
Im Gegenteil!
Wenn ein ehemaliger Marktteilnehmer eine exklusive Machtposition (z.B. ein Regionalmonopol im deutschen Energiemarkt) errungen hat, so hat er i.d.R. damit zugleich die besten Voraussetzungen, um sein Monopol abzusichern und sogar auszubauen. Gleiches gilt für ungerechte und ungerechfertigte Vermögensverteilungen: Auch hier gibt es, anders als es unreflektierte Kapitalismusanbeter meinen, eher eine Akkumulationsdynamik, also eine Tendenz zur Ausweitung der Vermachtung und Ungerechtigkeit, denn eine Tendenz zur leistungsgerechten Vergütung der eigentlichen Leistungserbringer.
Dem ungeregelten Marktprozess ist sogar auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Gefahr nahe, sich selbst, seinen Kern, den Leistungswettbewerb, zu beseitigen!
Denn es gibt am Markt fast kein stärkeren Anreiz für einen Marktteilnehmer, als die Absicherung einer unangreifbaren, gewinnträchtigen und dauerhaften Dominanz, als eben die erfolgreiche Vermachtung. Mechanismen wie Schädigungswettbewerb, Lobbyismus zur politischen Erringung ungerechtfertigter Vorteile oder die Elemination konkurrierender Marktteilnehmer auf dem Wege z.B. von Unternehmenszusammenschlüssen sind zwar nicht zwangsläufig, aber ein durchaus (jedenfalls für unzureichend geregelte Märkte) natürlicher, und i.d.R. sehr schädlicher Teil des Marktprozesses.
Die "unsichtbare Hand" wird, wenn man sie lässt, schnell zu einer Vormacht, Vermögen und Vorteile raffenden Hand, welche dabei trickreich agiert und nicht nur zu Lasten der Gerechtigkeit verfährt, sondern auch zu Lasten der allgemeinen Wohlfahrt, ja sogar zu Lasten des Wettbewerbsprozesses an sich - bis hin zur Refeudalisierung und Entdemokratisierung der Gesellschaft.
Wichtige Voraussetzung für diese deformierende Wirkung des Marktprozesses ist ein entscheidendes Macht- und Vermögensgefälle von Marktteilnehmer bzw. der Gesellschaftsbürger, welches dann mit vorhersagbarer Präzision zu Lasten der Schwächeren und der Allgemeinheit ausgespielt wird.
Das Ergebnis hiervon ist übrigens u.a. Unfreiheit.
Das m.E. größte Hindernis, wenn es darum geht, Missbrauch und Fehlentwicklungen unserer Wirtschaftsordnung zu bekämpfen, ist der sich zur Zeit (besonders bei unseren Eliten) immer weiter ausbreitende quasireligiöse Glaube an einen möglichst radikalen Kapitalismus bzw. dessen wunderwirksame "unsichtbare Hand", bei gleichzeitiger Blindheit gegenüber gesellschaftlicher und ökonomischer Wirklichkeit. Hier wird eine fast schon an Heilserwartungen reichende Harmonie aus dem Marktprozess heraus postuliert, und damit jegliche Kritik an Unzulänglichkeiten abgewehrt.