16 Juni 2006

Demokratie und Freiheit als deformierte Begriffe: Missbrauch als geostrategische Machtworte

Noch nie in der Weltgeschichte war eine nationale Regierung, welche zirka 4,5%* der Weltbevölkerung repräsentiert, derart grenzenlos erfolgreich, die Begriffe "Freiheit" und "Demokratie" auszuhöhlen, weltweit, und zwar als Anagramm für Herrschaftsinteressen.

(*Exkurs: 62 Mio Stimmen von 200 Mio Wahlberechtigten bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2004 entsprechen 31% der amerikanischen Bevölkerung bzw. repräsentieren 92, 4 Mio Amerikaner, d.h. 1,4 % der Weltbevölkerung)

Anagramm für Herrschaftsinteressen? Leider ja.

Ob ein Land in internationalen Vergleich als "Demokratie" eingestuft wird, das hängt wesentlich von geopolitischen Interessen ab. Ein aktuelles Beispiel ist die Diktatur in Usbekistan, welches bis 2004 von interessierten europäischen und amerikanischen Militaristen sogar als "parlamentarische Demokratie" eingestuft wurde. Diese positive Einschätzung änderte sich nach der von Usbekistan und der "Shanghai-Gruppe" erzwungenen Räumung der Militärbasen...

Die folternde Diktatur in Usbekistan galt Europa und den USA solange als "Demokratie", solange sie sich als nützlich erwies. Der Begriff "Demokratie" verkümmert in der Hand von Neocons und Militaristen zu einem Anagramm von Herrschaftsinteressen. (Beispiel)

Neocons in den USA erklärten die brutale Pinochet-Diktatur zur förderungswürdigen "Demokratie", während der tatsächlich teildemokratische Iran als uneingeschränkte "Diktatur" gilt oder sogar als "Hitlerherrschaft" betrachtet wird. Auch deutsche Regierungen sind von geostrategisch deformierten Fehleinschätzungen nicht frei, man denke z.B. an Schröders Aussage über den "lupenreinen Demokraten" Putin oder an perverse Hitlervergleiche von Merkel. Ich meine: Derartige machtstrategische Deformationen sind bei den rüstungsgeilen Neocons besonders stark ausgeprägt. Diesen Satz halte ich für wahr:
Die in der Praxis immer militaristisch und oft sogar faschistoid wirkende Neocon-Ideologie interessiert sich nicht für den Inhalt von Demokratie (=reale Volksherrschaft) und Freiheit (=reale Wahlmöglichkeiten).
Es verwundert daher nicht, dass Rumsfeld und andere Neocons mit Menschenrechtsgruppen regelmäßig Probleme haben oder AIPAC oder AI zum Feindbild erklären. Noch nie ging es den neokonservativen Macht- und Militärfetischisten darum, z.B. das Bildungswesen zu demokratisieren, und nur selten darum, die tatsächlichen Wahlmöglichkeiten der normalen Bevölkerung zu verbessern. Neocons kämen daher nicht einmal ansatzweise auf die Idee, die irakische Bevölkerung über die Dauer der US-Besatzung abstimmen zu lassen.

4 Comments:

At 16 Juni, 2006 10:41, Anonymous Anonym said...

Lieber Dr. Dean,

reden wir duch nicht nur immer von Rummy, von Dubya und von neoconnardschen Protofaschisten.

Reden wir doch einmal von der EU als "Demokratie" und der real existierenden deutschen "Demokratie, mit genau vier Arten der Sozialdemokratie. Es ist uns doch eigentlich näher.

Und daher wollen wir ja auch gar nicht gern davon reden, sondern verstärkt über andere, die bösi-bösi sind. Das lenkt uns ab, das verschafft uns eine Identitätsprothese.

Es grüßt,

der Lebemann

 
At 16 Juni, 2006 11:58, Blogger John Dean said...

Lieber Lebemann,

es stimmt schon, jede Form von Kritik an anderen steht recht schnell in der Gefahr, eine "verdeckende Kritik" zu sein.

Das betrifft durchaus auch den Umgang mit Amerika, sofern dies von Europa aus erfolgt. Es gilt aber ganz besonders (!) auch in der Gegenrichtung, wenn man einfach mal vorurteilsfrei darauf schaut, wo und mit welchen Interessen Neocons auf "Freiheit" schauen.

Die rechtsgerichteten Kräfte in den USA setzen einfach ihre Freiheit für absolut und unkritisierbar. Punkt. Defizite sind nur woanders. Ich hoffe, derart verpolt und unfreiheitlich im Kopfe sind die fortschrittlichen Kräfte bei uns (und in Amerika!) noch nicht, obwohl sich Lebemanns Kritik an Einseitigkeiten durchaus teilen kann.

Nicht teilen kann ich den Spruch mit den "vier Arten von Sozialdemokratie". Das pauschaulisiert, verwechselt Klientelpolitik der Parteien mit Sozialdemokratie und wird ansonsten auch der Grundidee von Sozialdemokratie kaum gerecht. Übrigens: Ich bin z.B. von der sozialdemokratischen Versorgungsstaatsidee recht weit entfernt, wie auch dem typisch sozialdemokratischen Larifari-Ansatz in der Politik, z.B. dieser unfassbaren Fähigkeit, fast jede Kröte willig oder gar behaglcih schlucken zu könnnen, bis dazu, z.B. sich an Hetze gegen Arbeitssuchende zu beteiligen.

Deshalb muss ich die vier dominierenden politischen Grundfärbungen in unserem Land immer noch nicht einheitlich "sozialdemokratisch" nennen.

Lebemann möge mir den Widerspruch verzeihen!

Auch ist richtig, dass wir auch vor Ort - das heißt: konkret bei uns genug vorfinden werden, um uns dort für ein Plus an Demokratie und Freiheit einzusetzen. Es wäre eine Deformation des Freiheits- und Demokratiestrebens, stets nur in eine Richtung zu schauen, oder die USA zum Hort der Demokratiefeindlichkeit zu erklären.

Indes: Das tue ich doch garnicht.

Will man redlich sein, so muss man den eigenen Kulturkreis (und dieser beinhaltet die USA, oder?) und die dort einflussreichen geistigen Strömungen vollständig in Augenschein nehmen. An den Neocons kommt man also nicht vorbei, und m.E. auch nicht daran, diese recht negativ zu werten, weitaus negativer auch als jeder noch so bürokratische und trottelige Sozialdemokrat, wo imemr er sich auf der Welt verstecken möge.

Hey, mir ging es vor allem um den Effekt der Begriffsdeformation!

Tjanun: Hier sind "böse Neocons" leider führend. Sie sprechen von "Demokratie" und "Freiheit" und meinen oftmals bestenfalls einen Parlamentarismus, welcher günstig ist für die Expansion ökonomischer und politischer Herrschaftsinteressen. So ist es diesen Neocons auch in jeglicher Hinsicht selbstverständlich, z.B. missliebige Presseorgane wie Al-Jazeera durch das Militär beschießen zu lassen.

Im Namen der Freiheit...

P.S.
Ja, ich denke, dass Neocons die Begriffe "Freiheit" und "Demokratie" auf unvergleichliche Art verunreinigen.

 
At 16 Juni, 2006 14:17, Anonymous Anonym said...

In den letzen Monaten sind sie ieber Dean irgendwie immer mehr in eine irrational-fanatische Haltung abgedriftet, die sie durch eine entsprechend lautstarke "Argumentation" kundtun.

Kein Eintrag vergeht, ohne Hitlerismus, Verfassungsfeinde, Neoconnazis und Faschistem am Werke zu sehen. Zur Zeit ergänzt durch Militaristen. Atmen Sie doch einfach mal tief durch.

Der Iran ist nach Ihren Maßstäben genauso teildemokratisch wie die DDR es war :) Die Obrigkeit segnet eine Kandidatenliste ab und die kann dan gewählt werden.

Zwar halte ich es für Übertrieben den iranischen Präsidenten als neuen Hitler zu bezeichnen, aber ich denke nicht, daß Sie sich darüber allzusehr erregen dürfen, den immerhin haben Sie unlängst den Begriff Hitlerismus in Zusammenhang mit einem kleinen CSU-Licht verwendet.

 
At 16 Juni, 2006 16:43, Anonymous Anonym said...

Donald Rumsfeld ist kein Neocon, sondern ein realistische Falke alter Schule. Daß die Neocons AIPAC zum Feindbild erklären, wäre mir neu - ich dachte, die Neocons *seien* AIPAC.

Die meisten Neocons haben die Pinochet-Diktatur nicht als "demokratisch" verteidigt. Auch das waren vielmehr die realistischen Falken (s. o.), denen Macht- und Interessenpolitik über alles geht, während führende Neocons sich *gerade* für eine weitaus kritischere Politik gegenüber ökonomisch und strategisch wichtigen "Verbündeten" wie Saudi-Arabien oder Ägypten (oder zuvor Usbekistan) einsetzen.

Genau diese realistischen Falken sind dafür verantwortlich, daß im Irak zu wenig Truppen eingesetzt wurden, um das Land stabilisieren zu können. Genau diese sind dafür verantwortlich, daß die Grundfesten einer stabilen Demokratie etwa im Irak nicht hinreichend gelegt wurden, denn *ihnen* ist dies nicht wichtig - den Neocons sehr wohl. Und genau diese "Realisten" sind es, die die Ambivalenzen in Sachen Folter u. a. eingebracht haben, die Abu Ghraib und Guantanamo möglich gemacht haben.

Ich empfehle mal eine genauere Auseinandersetzung statt einer pauschalen Dämonisierung der Neocons aufgrund von Leuten, die eigentlich gar keine "Neocons" sind. Das Problem sind die Cheneys und Rumsfelds. Und zwischen deren Ansichten und denen der "wirklichen" Neocons liegen Welten.

Ich denke, viele Europäer werden es noch einmal bedauern, sich so über den Einflußverlust der Neocons gefreut zu haben. Diese sind ihnen inhaltlich viel näher als sie denken. Jedenfalls weitaus näher als jene zynischen "Realisten", die nun unvermeidlich wieder an Einfluß gewinnen.

 

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