16 Januar 2006

Ideologie und Wirklichkeit

Ich beschäftige mich gerade ein wenig mit Wissenschaftsgeschichte. Eine für mich wichtige Fragestellung ist dabei, welche Faktoren Erkenntnisse bzw. deren Verbreitung behindern. Nun, es sind gewiss viele Faktoren, aber zwei Sachen sind mir bislang besonders aufgefallen, nämlich die Faktoren Ideologie und Autorität.

Die Sache mit der Autorität dürfte klar sein. Je aufgeschlossener eine Autorität ist, umso besser. Mich interessiert jedoch im Augenblick mehr der Faktor Ideologie und dessen Scheinautorität.

Ideologien

Unter Ideologie verstehe ich ein umfassenendes System zur Erklärung von Wirklichkeit mit teils selbstreferenziellem Inhalt und Anspruch auf Alternativlosigkeit. Sozusagen die Anmaßung von Wahrheit - wobei dies wahre Bestandteile keineswegs ausschließt. Entscheidend ist hier jedoch, dass jene Teile von Erkenntnis systematisch abwiesen werden, die dem ideologischen System entgegen stehen.

Wenn man so will, eine Art Wissenschaftstalinismus. Je abgeschlossener und ausgearbeiteter eine Ideologie ist, je stärker ihr unbedingter Geltungsanspruch für ihre Wahrheiten ist, umso stärker tritt dieser Charakter hervor.

Ignaz Semmelweis und der Retter der Mütter

Es hat in der Wissenschaftsgeschichte wahre Helden gegeben, z.B. Ignaz Semmelweis, der als ungarischer Arzt mit seinen Erkenntnissen Tausenden von Frauen das Leben gerettet hat. Nur: Es hätten viele Hunderttausend sein können - indes, die Ideologie der Zeit und die Autorität ihrer Vertreter standen seiner Sichtweise schroff und abweisend entgegen. Höchst merkwürdige Ansichten herrschten zu Beginn des 19. Jahrhunderts über das Wesen einer Infektionskrankheit und den Ansteckungsvorgang

Dabei war das, was er fand, im Grunde genommen eine Kleinigkeit.

Er fand heraus, wie man bei der Geburtshilfe das Kindbettfieber der Mütter verhindern kann. Die Wiener Klinik, in der er als junger Assistenzarzt angestellt wurde, hatte zwei Abteilungen. Die Sterblichkeit (pro Geburt!) betrug nahezu 20 %. Damals war es lebensgefährlich für eine Frau, ein Kind zur Welt zu bringen. Diese Todesrate bestand seit Jahren, man hatte sich seitens der Fachleute daran gewöhnt - außerdem hatte man ja hochgradig anerkannte Erklärungen: kosmische Kräfte, athmosphärische Einflüsse usw. usf.

Zwei Jahre lang sah er die jungen Mütter reihenweise sterben. Semmelweis ließ dies jedoch keine Ruhe und er begann, systematisch zu beobachten. Schon die erste Tatsache, auf die er aufmerksam wurde, ließ ihn aufhorchen. Die benachbarte zweite Abteilung der Klinik hatte nur ein Bruchteil der Todesfälle! Und dies, obwohl hier die Entbindungen nicht von den Ärzten, sondern nur von den Hebammen vorgenommen wurden. Die Tatsache war in Wien so bekannt, dass die Mütter geradezu verweifelt versuchten, in die zweite Abteilung aufgenommen zu werden.

Semmelweis pflegte, wie die anderen Ärzte, jeden Morgen im benachbarten Leichenhaus mit seinen Studenten die gerade verstorbenen Frauen zu obduzieren. Noch mit süßlich-penetranten Geruch der Leichen in den Kleidern eilte er dann in die erste Abteilung der Klinik zu den Gebärenden. Eines Tages starb ein Freund von Semmelweis, ein Pathologe, an den Folgen einer eigentlich geringfügigen Schnittverletzung. Er studierte den Leichnam eingehend und fand zu seiner Überrraschung exakt die gleichen Symptome, wie bei den verstorbenen Frauen, die dem Kindbettfieber erlagen.

Wie ein Blitz durcheilte ihn der Gedanke, dass er selbst, die Ärzte und seine Studenten den Tod Tag für Tag vom Leichenhaus in die erste Gebärabteilung trugen! Sie wuschen sich zwar, aber offenbar unzureichend: Der penetrante Leichengeruch blieb ja an ihnen haften! Die zweite Gebärabteilung, wo Hebammen ohne Kontakt mit Leichen arbeiteten, hatte deshalb eine viel geringere Sterblichkeit!

Semmelweis handelte sofort. Schon nach wenigen Tagen machte er die eiserne Vorschrift, dass jeder, der eine Gebärende untersuchte, vorher seine Hände in Chlorkalklösung tauchte, und zwar, bis jeglicher Leichengeruch verflog. Der Erfolg war schlagend. Im folgenden Monat fiel die Sterberate auf zwei von 100 Fällen.

Der Beweis war erbracht.

Der noch nicht einmal 33-jährige Assistenzarzt hatte mit seiner simplen Waschmethode die Vorurteile der wissenschaftlichen Welt über den Haufen geworfen. Das wurde ihm weder von seinen Studenten, noch vom Vorgesetzten, noch von den Experten verziehen, denn seine Befunde standen der bevorzugten medizinischen Deutung diametral entgegen.

Semmelweis musste nach Budapest umziehen, die lästige Waschung mit Chlorkalklösung wurde in Wien wieder eingestellt und die Todesrate stieg wieder auf die alte, furchtbare Höhe.

Die Fachwelt fand auf Basis des bisherigen Ideengebäudes, soweit sie diese Vorgänge überhaupt für beachtlich hielt, schnell passende Erklärungen. Hygiene galt als unsinnige Zeitverschwendung. In Budapest indes, anfangs in unbezahlter Stellung, gelangen Semmelweis die gleichen großartigen Erfolge! Elf lange Jahre lang. Die Experten, die ihren Irrtum nicht wahr haben wollten, hielten Semmelweis für einen Häretiker.

Weiterhin starben überall auf der Welt Mütter am Kindbettfieber, serienweise. Semmelweis predigte in taube Ohren.

Weder seine 1861 veröffentliche leidenschaftliche Schrift über Ursachen und Bekämpfung des Kindbettfiebers, noch seine Vorträge und Briefe an die Ärzteschaft fanden Echo. Nur zäh und langsam neigte sich die Waage der Wissenschaft weg vom althergebrachten Ideengebäude hin zu seinen neuen Ansichten, zumal sich erst spät einige wenige Autoritäten der Medizin auf seine Seite stellten.

Als "unverschämter Sonderling aus Budapest" galt er teils sogar als Bedrohung. Nicht nur, dass man sich stur weigerte, seine Ansichten überhaupt zu diskutieren oder die gefundenen Erkenntnisse probehalber auszuprobieren, man verfolgte ihn solange, bis man seiner habhaft wurde und den Abweichler mit Hilfe einer Intrige in ein Irrenhaus verfrachtete, in dem er nach zwei Wochen, ausgerechnet an einer Wundinfektion, am 13. August 1865 grausig verstarb.

Die Wirklichkeitsverachtung von Ideologien

Interessant an dieser Geschichte ist auch die Art und Weise, wie seine Argumente bekämpft wurden. Statt sich mit seinen Argumenten tatsächlich in der Sache auseinander zu setzen, tischte man immer wieder auf Neue die althergebrachten und hochgradig anerkannten Sichtweisen auf, die wie ein abgeschlossenes ideologisches System funktionierten. War man doch gewohnt, Infektionskrankheiten auf kosmisch-athmosphärische oder geheimnisvolle Kräfte wortgewaltig zurückzuführen.

Dieses System wies Züge der Wirklichkeitsleugnung und Ignoranz auf, dazu Einseitigkeit in der Betrachtung, aber es hatte ein hochgradig verfeinertes Deutungs- und Erklärungssystem anzubieten. Daher war es geschätzt und galt für die meisten bekannten, damit verbundenen Problemstellungen als hinreichend.

Seine Ansichten und seine Befunde wurden von der vorherrschenen Ideologie wie ein Magnet mit falscher Ladung immer wieder neu abgestoßen. Zudem zeigten sich die Ideologen als überlegene Taktiker im Gebrauch von Worten, bei der Deutung von Befunden und medizinischer Zusammenhänge, die überaus "passend" gemacht wurden, um eventuelle Widersprüche zu übertünchen.

Ideologien haben ein taktisches Verhältnis zur Wirklichkeit.
Nebenbei bemerkt: Ideologen haben oft auch ein taktisches Verhältnis zur Geschichte. Sie suchen sich heraus, was passt und verteidigen auf diese Weise ihren Deutungsschlüssel. Statt über offenbarte Widersprüche und abweichende Sichtweisen froh zu sein, werden diese abgewiesen, und im "ideologischen Idealfall" garnicht erst diskutiert. Stattdessen kommt es zur endlosen Wiederholung des ideologischen Systems, was von Insidern des ideologischen Systems als genügende Argumentation bzw. Wahrheitsbeleg betrachtet wird.

(Quelle: U.a. Hans-Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft, Band 2, Seite 181-183)

1 Comments:

At 20 Januar, 2006 13:48, Anonymous Anonym said...

Hallo, diese Note ist äusserst Lehrreich. Ich denke, der wissenschaftliche Geist war in der damaligen Gesellschaft noch nicht so weit durchgedrungen wie es heute der Fall ist. Dazu kommt, dass in der Medizin Autorität eine wichtige Eigenschaft eines Arztes ist. Wer sich zu stark in Frage stellt, und sich womöglich zugeben muss, dass dabei Menschenleben auf dem Spiel stehen, dem traut man nicht mehr. Das ist ja heute noch ein bisschen der Fall. Ein vertrauenserweckender Arzt ist an sich schon ein Genesungsfaktor.
Dogmatismus ist verwerflich, gleichzeitig braucht es ein gewisses Mass an Systemen, die nicht gleich umgeworfen werden, nur weil sie etwas nicht erklären können. Ideologie ist menschlich, menschlich gefährlich.

 

Kommentar veröffentlichen

<< Home