01 Juni 2006

Schmollers Kapitalismuskritik

Gustav Schmollers Werk ist fast vergessen, nicht immer zurecht. Seine Verdienste als Sozialreformer in der Weimarer Republik wirken bis in die heutige Zeit hinein. Kein Vergessen verdient z.B. Schmollers sozialwissenschaftlich orientierte Kapitalismuskritik. Zwei Zitate vorab:
"Besitzlos, ohne Hoffnung auf die Zukunft, steht der Arbeiter seinem Herrn gegenüber (...) Das Bewusstsein, auf sich selbst zu stehen, erzeugt neues Leben, eine gesteigerte geistige und ökonomische Produktion und Produktivität."
[Die Arbeiterfrage]
Schmoller fragt nach den Ursachen für gesellschaftlichen und sozialen Fortschritt und meint, dass diese in einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft zu suchen sind, darin, dass auf das Individuum eine "Einwirkung der Erfahrung, der Gesellschaft, der Ideenwelt" stattfindet. Das Individuum wird erst durch einen kollektiven Zusammenhang zur Person geformt, ausgestattet auch mit sittlichem Empfinden.

Gustav Schmoller wirft der klassischen Wirtschaftswissenschaft vor, ausschließlich vom individuellen Erwerbstrieb auszugehen und damit die psychologischen, sittlichen und kulturellen Voraussetzungen von Wirtschaft zu verkürzen. Diese sind Schmoller wichtig zur Sicherung eines "gewaltlosen Erwerbtriebes".

Er warnt davor, dass ein enthemmter und von sozialen Gefühlen losgelöster Erwerbstrieb schädlich ist, da enthemmter Erwerbstrieb
"die sozialen Beziehungen vergiftet, den Frieden in der Gesellschaft vernichtet und durch die erzeugte Gehässigkeit und sittliche Roheit, durch die entstehenden Kämpfe den vorhandenen Wohlstand untergraben und verschütten kann."
Schmoller sagt, die
"Harmonie der Gesellschaft und das innere Gleichgewicht der Individuen"
werden bei einer rein egoistischen Gesellschaft geschädigt. Es kommt im enthemmten Kapitalismus zur Degeneration der oberen Schichten durch Genuss- und Habsucht und der unteren Schichten durch Unterdrückung und Regression. Dies führt letzten Endes zur Erosion sittlicher und geistiger Fähigkeiten und zum Untergang in inneren und äußeren Kämpfen, besonders dann, wenn es der Elite an vorbildlich wirkender Sittlichkeit mangelt.

Schmoller warnt vor dem resultierenden gesamtgesellschaftlichen Verfall, der beschleunigt wird, wenn die sozialen Schichten stark voneinander getrennt sind und wenn der Machtmissbrauch der Eliten ein destabilisierendes Ausmaß annimmt. Eine Gesellschaft mit mangelnder Durchlässigkeit, mit mangelhaften "verjüngen" der Oberschicht läuft wegen der Elitendegeneration darauf hinaus, dass die Oberchicht als Ganze ersetzt werden muss.

Mangelnde Sittlichkeit der Eliten, die Verschärfung von Missständen der "privatrechtlich" begründeten Abhängigkeiten, die Herrschaft von elitären Partikularinteressen über das Gesamtwohl, die zunehmende Formung von Recht, staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen nach den Interessen der herrschenden Schichten lässt nach Schmoller letztlich nur folgende Wahl:

Reform oder Revolution!

Eine gesunde staatliche Entwicklung beruht auf "Kämpfen und Friedensschlüssen der sozialen Klassen", Gerechtigkeit, sozialen Frieden, Bildung, Rechtsstaat, einer zivilisierten öffentlichen Meinung und vor allem auf die Durchsetzung von Gemeinwohl.

Damit können Klassen- und Verteilungskämpfe zwar nicht beseitigt werden, aber "die Konfliktlösung durch soziale Reform schwächt eine Gesellschaft nicht". Sympathie, Gemeingefühl, das Mitleid, "die Mitempfindung auch mit Nichtverwandten", sowie eine "feste, starke, gerechte Regierung" sind der Kitt der Gesellschaft. Griechenland und das römische Reich gingen unter, in einem "Erlöschen ihrer sittlichen Kräfte", weil sie nicht in der Lage waren, die Klassenkämpfe auszugleichen.

Der individuelle Erwerbstrieb ist nur soweit von Nutzen, wie er der "Wohlfahrt des Ganzen" dient und muss "sich den höheren Zwecken richtig eingliedern", im Sinne einer selbst verstandenen oder staatlich erzwungenen Unterordnung unter sittliche Ge- und Verbote. Schmoller sieht in der "Wohlfahrt des Ganzen" keinen Automatismus, er sieht keine unsichtbare Hand, auf die man vertrauen könne, sondern fordert eine sittliche Zügelung des Kapitalismus,
"wobei dem egoistischen Interesse der einzelnen und der Gruppen ein gewisser Spielraum zu gönnen, aber zugleich eine Grenze zu setzen ist."
Der Kampf der Egoisten untereinander soll nicht ganz ausgeschaltet werden, weil der egoistische Kampf "Energie und Tatkraft" fördert. Konflikt und Wettbewerb sollen begrenzt werden, aber Freiräume zulasssen; dann ist Fortschritt möglich. Schmoller hält einen Mittelweg für ideal:
"Alle Gesellschaft ist ein Kompromiss zwischen Frieden und Streit".
Nach Schmoller bedarf es in jeder wirtschaftlichen Organisation und Institution eines
"bestimmten Verhältnisses zwischen Sittlichkeit, die sich in Normen und Institutionen ausdrückt, und den egoistischen Gefühlen und Trieben, um Entwicklung möglich zu machen"

Damit kommt Schmoller, der viele Jahre (1890-1917) Vorsitzender des "Verein für Socialpolik" war, den modernen Befunden der Experimentalökonomie erstaunlich nahe. Jede Volkswirtschaft benötigt nach Schmoller sowohl sittlich (gemeint: kollektive oder öffentliche) wie auch egoistisch (gemeint: private) geleitete Wirtschaftsorgane. Damit und mit seinen zugleich marktwirtschaftlichen wie sozialreformerischen Vorstellungen nimmt er den "ökonomischen Humanismus" des Ordoliberalen Alexander Rüstow vorweg. Beide, Alexander Rüstow und Gustav Schmoller standen in ausdrücklichen Gegensatz zur österreichischen Schule, den "Paläoliberalen" Hayek und von Mises.

Gustav Schmoller trennt zwischen individuellem und kollektivem Nutzen und forderte von der Gesellschaft, dass hier "jedem das seine" gegeben wird, verstanden als Rücksicht auf unterschiedliche individuelle Bedürfnisse, Erfordernisse und Möglichkeiten. An die Perversion der Nazis, die aus "jedem das seine" eine sozialdarwinistisch-hassende Menschenfeindlichkeit machten, dachte Schmoller gewiss nicht.

4 Comments:

At 01 Juni, 2006 15:05, Anonymous Anonym said...

@ Dr. Dean

schöner Abriss, aber bitte was sind denn - so im Lande D - bitte "Klassen" ?

Ganz besonders beunruhigend wirkt ja wieder mal der Ruf nach einer

"feste, starke, gerechten Regierung"

Vulgo also dem starken Mann bzw. dem "starken Rat" oder der "starken Junta".

Das Wort "gerecht" erfüllt wie immer seinen Zweck als Wohlfühlpaket für alle. Har Schmoller irgendwo ausgeführt, wie er dies definiert ?

Es grüßt herzlichst,

der Lebemann

 
At 01 Juni, 2006 17:13, Anonymous Anonym said...

Der Herr Dr. Dean mag das Wort Gerechtigkeit eigentlich nicht. Denn einen Artikel zuvor schrieb er

Mit "Gerechtigkeit" meinte Ahmadinedshad den Revolutionsgarden-Islamismus, und dass dieser als "nachhaltiges Prinzip" über die Iraner und deren demokratischen Willen dominiert. Mit "nachhaltiges" Prinzip sind nicht etwa Freiheits- und Menschenrechte gemeint, sondern ein Primat des Islamismus über die Demokratie. A. akzeptiert nur eine eingeschränkte Demokratie.

Schmoller ist übrigens nicht im Einklang mit der modernenen Wissenschaft (Positivismus) sonern ein Moralist. Schmollers Werke sind nicht nur lausig sondern auch schon vor 100 Jahren widerlegt...

Woher Dr. Dean seine sozialwissenschaftlichen Ergüsse bezieht ist mir schon länger mehr als fraglich. Ich kann es übrigens bestenfalls belustigend finden das Max Weber in der Liste der Linksliberalen auftaucht. Er war nicht nur ein notorischer Polenhasser sondern auch ein religiöser Fundamentalist. Der den "Kapitalismus und den eisernen Käfig des Berufsmenschentums" als höchste Stufe der menschlichen Entwicklung sieht. Er sieht den Beruf als Berufung, wobei er sich natürlich auf die Bibel beruft. Alles natürlich völlig werturteilsfrei, logisch (findet sich alles in "Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus").

 
At 01 Juni, 2006 18:31, Blogger John Dean said...

@Bloggnjus
Lieber Blognjus, Du schreibst:

"Der Herr Dr. Dean mag das Wort Gerechtigkeit eigentlich nicht. Denn einen Artikel zuvor schrieb er...Mit "Gerechtigkeit" meinte Ahmadinedshad..."

Ich gehe davon aus, dass Du mit dem, was ich schreibe, im Moment nicht klar kommst, weder mit dem Wortlaut, noch mit dem Inhalt.

"Ich kann es übrigens bestenfalls belustigend finden das Max Weber in der Liste der Linksliberalen auftaucht."

Das ist es doch was ich will, lieber Bloggnjus! Menschen Freude bereiten. Daher wird Dich die Information freuen, dass Max Weber zu den Gründungsvätern der DDP gehörte und in der historischen Forschung völlig selbstverständlich "linksliberal" genannt wird. Hey, und es gibt sogar protestantische Linksliberale. Warum auch nicht?

Aber wetten, lieber Bloggnjus: Dass ich Dich mit der Angabe derartiger Begründungen nicht überzeugen kann?

Siehste!

 
At 01 Juni, 2006 19:05, Anonymous Anonym said...

Ein weitsichtiger Mann, dieser Gustav Schmoller. Mit der Erkenntnis, dass ein funktionierendes Staatswesen sowohl egoistisch orientierte, marktwirtschaftlich Triebkräfte, als auch eine gemeinwohl-orientierte staatliche Authorität braucht, war er den Debatten seiner Zeit vorraus. Unglücklicherweise sind es nicht diese differenzierten Ansichten, die sich über die Zeit erhalten - sondern viel eher extremistisches Geschrei. Und auch das ist heute nicht anders. Woran das wohl liegen mag?

Gruß aus Berlin - red.cloud

 

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