25 Mai 2006

Literatur-Zensur: durch Markt und Ideologie - ein Dank an Fritz J. Raddatz

+++ Posting um drei Tage nach hinten gerückt , damit dieser in seiner Länge schwer verdaubare 30-Bildschirmseiten-Oschi die Bloglesersdhaft nicht zu sehr er- und abschreckt+++
I
n Verehrung für das Lebenswerk von Fritz J. Raddatz und unter Zitation von Teilen aus diesem lesenswerten Zeit-Artikel zur deutsch-deutschen Kulturgeschichte aus dem Jahr 1999 einige Anmerkungen von mir.
Die Mühlen der Zensur jedoch, einmal rechts, einmal links, mahlten in beiden Deutschlands gemeinhin viel feiner, der Öffentlichkeit kaum erkennbar. Hie war es die - keineswegs unpolitische - Zensur des Marktes, dort war es die - Gesetze des Marktes ignorierende - Zensur der Ideologie.
Zensur ist eben nicht immer das Ergebnis von totalitären Ideologien: Auch eine "Totalitarität des Marktes" kann Zensur bewirken. Dass die Nachkriegswerke von Alfred Döblin und Walter Mehring in der jungen Bundesrepublik keine Verleger fanden: Das ist ein Schandmal, genauso, wie die Literaturzensur der DDR.

Übrigens: Blogs könnten hier ein Baustein zu einer demokratischen Gegenkultur sein.
Während die Verlage der Bundesrepublik ganze Traditionsstränge der deutschen Literatur ignorierten, von Erich Mühsam über Heinrich Mann bis zu Friedrich Wolf oder Franz Jung, linke Publikationen wie Linkskurve oder AIZ bis weit ins Ende der sechziger Jahre unbekannt blieben, filterten die DDR-Verlage durch ein feines Sieb: Wenn Erich Mühsam (rasch auch wieder verboten), dann eine kleine Auswahl; wenn Marx, dann nicht die Frühschriften; wenn Tucholsky, dann um Stalins willen nicht der ganze.
Es ist ein Hohn, wie die DDR immer wieder und sehr umfangreich auf Tucholsky Bezug nahm, und genau wusste, dass sie als totalitärer Sozialismus tiefste Verachtung von ihm erhalten hätte. Aber auch dem Westen war er zu freiheitlich, zu pazifistisch. Geduldet höchstens als witziger Satiriker und vermeintlicher Sozialist.
Ich selber, bis 1958 im Ostberliner Verlag Volk und Welt, seit 1960 bei Rowohlt tätig, wüsste Dutzende von Anekdoten: von der Ente, die in einem Gedicht nicht "westwärts" schwimmen durfte - um die Veröffentlichung zu retten, ließ der ängstliche Korrektor sie "ostwärts" schwimmen: Es war ein Druckfehler, das Tier sollte "nestwärts" schwimmen; oder von dem Schwein in einer Erzählung über trunkene Kombinatsarbeiter, die es nächtens dem Wodka spendierenden Wirt klauten, es schlachteten und verzehrten, was aber klassenbewusste Arbeiter nicht tun, weswegen in der Druckfassung ein Huhn geschlachtet wurde.
So sieht also der Alltag eines Lektoren in der DDR aus, von der Fritz J. Raddatz berichtet. Wenn es der starke Arm des realen Sozialismus will, dann wird aus dem "nestwärts" ein ein "ostwärts" und aus einem Schwein ein Huhn, das klassenbewusste Arbeiter verschmausen. Ein Treppenwitz, wie zutreffend diese "Korrektur" war: Tatsächlich bekamen die Arbeiter in der DDR im Gegensatz zu den SED-Funktionären dürre Broiler an Stelle von Spanferkeln.
Für die langen Messer der Schere, nun nicht mehr anekdotisch, ist dieser Vorgang symptomatisch: Als ich bei Volk und Welt Kurt Tucholskys Deutschland Deutschland über alles verlegen wollte, ein Blindband mit John Heartfields schönem Umschlag lag zum Wohlgefallen der Besucherin Mary Tucholsky schon auf der Leipziger Messe, griff in letzter Minute die Zensur ein - man hatte den Aufsatz Der Kriegsschauplatz entdeckt, der von der heimlichen Aufrüstung der Reichswehr in der Sowjetunion handelt. Das durfte so wenig sein wie ein Foto von Trotzkij neben Lenin auf historischen Aufnahmen. Der Blindband gehört heute zu den Prunkstücken des Kurt-Tucholsky-Archivs. Als ich zehn Jahre später das Buch bei Rowohlt verlegen wollte, weigerten sich die Mitgeschäftsführer, den Vertrag für "das antideutsche Buch" zu unterschreiben. Es erschien 1964. Figaro hier, Figaro dort ...
Aber immerhin: Nach den langen Bemühungen von Raddatz erschien es, nach 10 Jahren allerdings. Und doch: Fast wäre dieser Kulturschatz verloren gegangen! Vermutlich kann man das generalisieren: Wer in der "freien" Marktwirtschaft kulturelle Schätze anzubieten hat, der muss einen langen Atem haben, und das große Glück, auf einen verständigen Verleger zu stoßen.

Kein Majakowskij im Westen (der im Osten gewissermaßen noch lebte; denn umgebracht durfte er sich nicht haben) - kein Faulkner im Osten; keine Virginia Woolf im Osten - keine Anna Seghers im Westen; als der dickköpfige Helmut Kindler Ilja Ehrenburgs Memoiren verlegte, gab es Skandal und Boykott - im Osten waren die frühen Romane verboten. Die Wippe schwankte und schaukelte, und hier flog Neruda herunter und dort kam Rimbaud nicht rauf. Der westdeutsche Literaturwissenschaftler Jost Hermand berichtet, dass ihm - nach abgeschlossenem Germanistikstudium in Marburg 1955 - Autoren wie Brecht, Arnold Zweig, Anna Seghers gänzlich unbekannt waren; im selben Jahr, Mai 1955, bittet Hans Erich Nossack in einem Brief an Peter Huchel, doch an Joseph Breitbach - "er verfügt über einen untrüglichen, ganz undogmatischen Sinn für Niveau und Qualität" - nach Paris Sinn und Form zu schicken, das "ihm dort nicht zugänglich" ist.

Das wird den "prowestlichen" Ideologen der heutigen Zeit kaum schmecken: Dass ihr angeblich überlegener Begriff von Freiheit sich ausgesprochen repressiv gerieren kann. Man wollte in der jungen Bundesrepublik keinen "linken" Autoren Raum geben, das war sozusagen eine Anpassungsleistung an marktwirtschaftliche Erfordernisse. Ich wette darauf: Wir werden sowas auch in Zukunft erleben, wenn wir nicht wachsam sind. Die Unterdrückung kritischer Stimmen ist keine exklusive Leistung von Sozialismus und Faschismus.

Prosa als Fahrkarte ins Gefängnis

Noch in Uwe Johnsons, des im Osten verbotenen Autors, Begleitumständen kann man nachlesen, was einem widerfahren konnte unter "Ost-Verdacht": Der aus der DDR geflohene Schriftsteller hatte es gewagt, ab Juni 1964 im Westberliner Tagesspiegel Rezensionen des Ostberliner Fernsehens zu publizieren. Nur des italienischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli störrischer Einsatz rettete ihn vor Hermann Kestens zänkischer Intervention. Indes Autoren, die aus gutem Grund von West nach Ost übersiedelt waren - Peter Hacks, Wolf Biermann, Adolf Endler - nur allzu rasch die Perfidie der Zensur zu spüren bekamen; von Letzterem, dem "politischen Chaoten", erschien in seiner neuen Heimat kein einziges wesentliches Buch. Der kundige Lektor Gerhard Wolf antwortet dem Autor Jürgen Fuchs, als der ihm bei einer Lesung von Christa Wolf Texte gibt: "Das ist alles sehr gut. Diese Prosa führt direkt ins Gefängnis."

Wohlgemerkt: Hier ging es um Gefängnisse in der DDR. Die erhoffte neue Freiheit wurde flugs zur Unfreiheit. Wobei der Aberwitz ja auch darin besteht, dass Autoren vom Westen in den Osten flohen.

Das Zensur- und Überwachungssystem in der DDR - jede Visitenkarte, da bedrucktes Papier, hatte eine "Lizenznummer" - war derartig engmaschig, dass eine 1997 im Akademie-Verlag erschienene Dokumentation 440 Seiten Großformat benötigt, um die Verzweigung und Verzahnung zwischen - gelegentlich aufgelösten, unter anderem Namen neu formierten, jedenfalls allvorhandenen - Behörden, Ministerien, ZK, Lektoratsaufsichtsinstitutionen nachzuweisen. Das klingt mal munter, wenn etwa der notorische Kurt Hager ein Kinderbuch Tito, die Geschichte einer Präriewölfin verbietet, weil die Kinder den Titel "allegorisch mit dem Banditen Tito in Verbindung bringen", und mal eher bedrohlich, wenn ein Gutachten befindet: "Es gibt Punkte, wo das Amt von vornherein Nein sagt. Ich will hierzu ein Beispiel anführen. Wenn ein Roman geschrieben wird, der die Übergangswochen und -monate aufzeigt und die Übergriffe der sowjetischen Soldaten geschildert werden, und wenn andererseits die geschichtliche Bedeutung der Roten Armee als Befreier vom Faschismus nicht deutlich gemacht wird, dann muss ich zu dieser Arbeit Nein sagen. Wenn sich solch ein Fehler herausstellt, dann muss man mit dem Autor solange diskutieren, bis er ihn einsieht, und ihm von vornherein sagen, dass es so nicht möglich ist."
Aber auch der Markt diskutiert mit dem Autor solange, bis er endlich die tausendste Biografie zu Marylin Monroe schreibt (viele Bilder!), inklusive einer neuen Theorie zu ihrem Tod, möglichst mit einer gehörigen Dosis CIA und Kennedy verrührt. Dass längst bekannt ist, dass ein Klistier ihres Psychoanalytikers das Unglück bewirkte: Sowas ignoriert der an Markterfordernissen orientierte Autor besser. Eine neue und interessante Fantasie- und Lügengeschichte verkauft sich allemal besser als eine altbekannte Wahrheit. Wahrheit und Verkaufserfordernisse passen am Markt nicht immer zusammen.

Oft drohen die vorgesetzten Funktionäre ganz unverhohlen: "Wie dieses aus schlechtester Wild-West-Romantik, Schießer-Kultur und Steppen-Mystik in eindeutiger Kitschmanier zusammengebaute Machwerk Ihr Lektorat passieren und zu uns gelangen konnte, ist uns unverständlich. Wir möchten Ihnen vorschlagen, diese Frage zu prüfen und zum Gegenstand einer kritischen Diskussion innerhalb des Verlagslektorats zu machen."
Dieser Rüpelton erinnert mich an die Diskussionen in der Blogosphäre. Nur kann dort niemand einfach so zum Verschweigen gebracht werden. Was mir z.B. wiederholte Todesdrohungen eingebracht hat. Bei bestimmten Stimmen ist Schweigen hocherwünscht. Wenn ein Staat alle Macht in sich vereint, gegen die Individuen, und nutzt, dann kommt zwangsläufig Zensur heraus. Im Übrigen wären an dieser Stelle der verschwenderische öffentlich-rechtliche Rundfunk und die zensurfreudigen konservativen Medienwächter, die im beinahe demokratischen Halbdunkel operieren, mehrere gründliche Blicke wert. Statt lebensnahe Vielfalt zu fördern, wird Uniformität gefördert, oft im Namen des Marktes.
Mal müssen Bücher wie die von Theodor Plivier einstampft werden, weil der Autor floh; mal, weil "die Entwicklung sie überholt hat" wie das nun pazifismusverdächtige Tagebuch in Bildern. Nie wieder von Teo Otto, das Brecht eingeleitet hatte; und mal war gar ein Bastelbuch Wie baue ich einen Kaninchenstall nicht auf der Höhe der ideologischen Einsicht. Reinhold Schneiders Inselreich galt als Rechtfertigung des englischen Imperialismus, Erskine Caldwells Gottes unsichtbare Hand war "in Pornographie absinkende Elendsbeschreibung", Valérys Gedichte konnten wegen "existentialistischem Imperialismus" nicht erscheinen wie Wolfgang Koeppens Tod in Rom nicht wegen "Verherrlichung des Päderastentums".
Der Totalitarismus in der DDR verschärfte sich im Laufe der Jahre. Wer den Erfordernissen der Ideologie nicht genügte, wurde unterdrückt. Übrigens, auch wenn das in diesem Zusammenhang eine lässliche, unwichtige Randbemerkung ist: In "prokapitalistischen" Blogs wird meine harmlose Meinung, und sei sie noch so höflich formuliert, oft unterdrückt. Es gibt offenkundig auch "kapitalistische Ideologie" und kapitalistische Gleichschaltungswünsche. Eine Kleinigkeit, soweit es mich betrifft, und wieviel schlimmer, wenn die Alleinherrschaft einer Partei eine alternativenlose Gesellschaft will und daher, anders geht das nicht, zur Kulturzensur greifen muss.
Vorbei die Zeiten, da der Sonntag (Januar 1948) freizügig "Für und wider den Existentialismus" diskutierte und über die von Hans Magnus Enzensbergers späterem Schwiegervater Fadejew so titulierte "Hyäne" Sartre immerhin dieses Urteil druckte: "Dass diese Romane eine gewisse Vorliebe für einige wenig appetitliche Aspekte des Lebens und der menschlichen Natur zeigen, das ist unbestreitbar. Aber ich sehe darin keinen hinreichenden Grund, um sie zu verurteilen. Denn schließlich gehören diese Aspekte auch der Wirklichkeit an und, da sie dazu gehören, besitzt der Künstler das Recht, zu ihnen zu greifen und diesen Stoff zu gestalten. Schließlich hindert niemand die Leser von Sartre, die von dem bekannten Ekel erfasst werden, als Gegengift drei Romane von Henri Bordeaux nacheinander zu lesen, was die deutschen Leser betrifft, meinetwegen von Courths-Mahler."
Der "sozialistische Realismus" mochte die Realität nicht. Und ob er "Sozialismus" mochte: Das ist unter Retrosozialisten umstritten. Die DDR-Oligarchie mochte am Ende nur ihre eigene Macht. Da haben wir es wieder, das Grundproblem jeglicher menschlichen Gesellschaft: Der Mensch schafft es nur selten, mit Macht über andere Menschen klar zu kommen. Zuviel Macht und eine Ungleichverteilung von Macht schaden. Leider zeigt sich dies in allen Gesellschaftsformen.

Koeppen tief im Sumpf

Les extrêmes se touchent: Über des "Päderastenverherrlichers" Koeppen Roman Tauben im Gras konnte man 1952 im Monat lesen: "Weil dieses Buch sich fast ausschließlich im Morbiden, im Sumpfe tummelt, weil es außer in der Analyse dieser Gegebenheiten keine Kraft aufweist, weil sein Pessimismus keine substantielle Größe hat - darum auch mangelt es ihm an dem Atem, an der Überzeugungskraft, die es hätte ausstrahlen können, wäre es nur von einer höheren Warte aus geschrieben worden." (Hans Schwab-Felisch korrigierte übrigens in einem "Widerruf" vierzehn Jahre später sein Urteil.)

Soweit der Ost-Sumpf.

Der Ton der westdeutschen Koeppen-Kritik war eingestimmt auf "ätzend", "bösartig", "lüstern", Alfred Andersch schrieb: "Sein Angriff ist vom kalten Hass diktiert und bösartig gezielt." Koeppens Befund, die neue Macht des aufrüstenden Westens sei "versippt mit den alten Urmächten", traf auf taube Ohren und spitze Zungen. Noch 1999 nannte Günter Grass "diese Teilung eine gesamtdeutsche Leistung (...) weil diese beiden Systeme im Kalten Krieg vieles gemeinsam hatten".

Heutzutage ist Günter Grass für "liberale" Kräfte das Ziel übelster Schmähkritik, und ein vom SPRINGER-Verlag bezahlter "prowestlicher" Blog-Wurm wie Apocalypso bzw. Alan Posener meint tatsächlich, er hätte das Format, um Günter Grass vernichtend zu kritisieren.

Wolfgang Koeppen wurde mit fast denselben Verdikten in der Bundesrepublik überhäuft, unter deren Verfolgungsmechanismen der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider litt. Peter Hamm hat das in einem Essay eindringlich beschrieben: "Besonders tief betrübte Reinhold Schneider in jener Zeit die Rolle der katholischen Kirche, die mit dem zwischen Vatikan und Hitler-Deutschland geschlossenen Konkordat dem Diktator die erste internationale Legitimation geliefert hatte und die später niemals die Verfolgung von Sozialisten, Kommunisten und Juden laut anprangerte. Im ,Verhüllten Tag' schrieb Schneider über den Schock dieser feigen Kirchenpolitik: ,Spätestens am Tage des Synagogensturmes hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen. Es ist entscheidend, dass das nicht geschah. Aber was tat ich selbst. Als ich von den Bränden, Plünderungen, Greueln hörte, verschloss ich mich in meinem Arbeitszimmer, zu feige, um mich dem Geschehen zu stellen und etwas zu sagen.' (...)

Auch Mutige können feige sein, wobei die katholische Kirche ein eigenes Kapitel darstellt, wo es, von großartigen Ausnahmen abgesehen, sehr viele Erscheinungen der Feigheit zu besichtigen gibt. Übrigens auch beim angeblichen Stellvertreter Gottes, dem überaus lächerlichen Kardinal Ratzinger. Wäre er mutig, würde er die Verbreitung von Präservativen zur Bekämpfung von AIDS propagieren. Bei ihm ist es die Feigheit eines Feigen. Katholische Literaturkritik ist feige Feigheit in Reinform.

Wiewohl errettet, begann erst jetzt, nach 1945, Schneiders leidvollste Zeit. Gleich Walter Warnach, der früh die ,verlorene Niederlage' beklagte, musste auch Schneider rasch erkennen, dass die Chance eines wirklichen Neubeginns im Sinne einer moralischen Umkehr bewusst nicht genutzt wurde, dass Restauration statt Revolution auf Adenauers Programm stand, also die Niederlage noch immer nicht groß genug war:

Auch hier gilt, dass Marktwirtschaft und eine darauf orientierte Gesellschaft kaum imstande sind, Moral zu schaffen.

,Wir hätten, im Sinne Luthers, ganz vernichtet sein müssen, wenn wir gerettet werden sollten', schrieb Schneider damals und machte sich damit sowenig beliebt wie mit jener Kardinalfrage nach der Schuld, die er bei seinem ersten öffentlichen Auftreten nach dem Krieg 1946 in Freiburg sich und seinen Zuhörern stellte: ,Um unsere Schuld festzustellen, genügt es nicht, den Grad unserer Mitwirkung am nationalsozialistischen Regime abzuschätzen, vielmehr muss sich jeder einzelne jetzt fragen: Was würde ich heute tun, wenn unsere Truppen siegreich vorbeidefilierten?' Schon wenig später geschah das Unfassbare: Es defilierten wieder deutsche Truppen an einer bis zur Idiotie unbelehrbaren Bevölkerung vorbei.

Ob vollständige Vernichtung einen Neuanfang schafft, wäre eine genauere Betrachtung wert. Ich zweifle daran. Meiner Meinung nach: Der fehlende Wille, das fehlende Interesse reifen auch nicht im Fall völliger Vernichtung, schon garnicht automatisch. Dieses Heranreifen muss auf andere Weise geschehen. Für den Willen zum Neuanfang muss auf andere Weise geworben werden.

Wir sollten und ich muss an dieser Stelle "die 68er" loben, die heutzutage zunehmend verachtet werden. Ohne diese hätte Deutschland sich niemals so intensiv mit seiner historischen Schuld, dem Krieg und dem Holocaust beschäftigt! Niemals. Oder mit der Untertanenhörigkeit seiner Bewohner. Ich bin den 68ern daher dankbar, sehr sogar. Aus diesem Erfolg erwächst Autoren, die sich tausenden von Lesern mitteilen, eine Pflicht. Ob es ein Autor mag oder nicht, ein Autor ist immer auch Lehrer, immer auch Multiplikator. Er hat Verantwortung, und sei es, sich der Zensur zu entziehen.

Klerikale Beißer

Schneider hatte bis zum physischen Zusammenbruch gegen die Remilitarisierung gekämpft, vor allem auch wieder gegen die Haltung der Kirche, die den kalten Krieg erst richtig anheizte und gegen den ,Feind im Osten' sogar gelegentlich die Atombombe als ,christliches Schwert' und ,Zuchtrute Gottes' rechtfertigte.

Woran erinnert das? An evangelikale, sich teils sogar faschistisch gerierende kulturalistische Eiferer in den USA. Einzelstimmen, und doch symptomatisch. Wie seltsam: Das Denken von dort schwappt zunehmend zu uns rüber, zum Beispiel dieser dümmliche Stolz auf "inkorrekte" Ansichten.

Nachdem sich Schneider 1949 an einem Friedensgespräch der im Berliner Ostsektor erscheinenden Kulturbund-Zeitschrift Aufbau beteiligt hatte und dort 1951 auch ein Brief von ihm an Johannes R. Becher abgedruckt worden war, in dem er in einer so schwerwiegenden Frage wie der Aufrüstung einen Volksentscheid - und zwar einen des ganzen deutschen Volkes - als unerlässlich gefordert hatte, ließ die katholische Kirche ihre Bluthunde - sprich: klerikale Presse - los; vor dem Hintergrund des Dekrets des Heiligen Offiziums in Rom vom Juli 1949, das die Zusammenarbeit von Katholiken und Kommunisten verbot, drohte man im Petrusblatt und ähnlichen Organen Schneider offen die Exkommunikation an und setzte einen Verleumungsfeldzug gegen ihn in Gang, bei dem man nicht einmal davor zurückschreckte, Schneider die Annahme eines hochdotierten Postens in der Sowjetunion zu unterstellen.

Wer zuviel Macht hat, nutzt sie munter; im Osten wie im Westen. Hier gegen jemanden, der sich für Frieden und Abrüstung eingesetzt hat.

Bald wagten Zeitungen, Zeitschriften und Funkanstalten sogar bereits verabredete Beiträge des als Häretiker und Kommunistenknecht Gebrandmarkten nicht mehr zu publizieren.

Kaum zu glauben oder? Und das im "freien" Westen!

Zum zweiten Mal sah sich Schneider in die innere Emigration gedrängt, ähnlich wie Martin Niemöller, der später bekannte, er denke ,an die Jahre 1949-1954 als an die dunkelste Zeit meines Lebens (...) dunkler selbst als die acht Jahre im Gefängnis und Konzentrationslager' zurück." Man darf sich erinnern, dass deutsche Behörden sogar im Ausland intervenierten, so die deutsche Botschaft in Paris - erfolgreich - gegen Alain Resnais' Film Nacht und Nebel mit der Musik von Hanns Eisler, für die Bundesrepublik später in der Fassung von Paul Celan, der 1951 bei den Festspielen in Cannes gezeigt werden sollte.

Ups! Einen derartigen Fall von Kulturzensur hätte sogar eine respektlose Lästerstimme, wie ich es bin, nicht für möglich gehalten.

Ulrich Becher, nie anerkannt in der Bundesrepublik, konnte wegen "missverständlicher freudianischer existentialistischer Haltung" in der DDR nicht verlegt werden, Volk und Welt musste William Faulkners Eine Legende zurückziehen, weil "mystisch, pazifistisch, unter dem Gesichtspunkt der Erziehung der Leser ohne jeden Wert", ebenso Moravia, Sartre und Hemingway. Der Aufbau-Verlag strich Werke von Klaus Mann, Hermann Hesse und Joseph Roth; im Zeitraum von Oktober 1957 bis Februar 1958 wurden allein zwölf Titel zurückgezogen, und die im Wortsinn federführende Hauptverwaltung Verlagswesen drohte unverblümt, dass Verleger wie Lektoren künftig für "schädliche Bücher sehr ernsthaft zur Verantwortung gezogen" würden.

Die systemübergreifende "Schädlichkeit" des Pazifismus. Wie absurd das doch ist. Was mit pazifistischen Texten in deutschen Schulbüchern geschieht, von Ausnahmen abgesehen, wäre eine Darstellung wert. Während kleingeistige Kriegshetzer wie Gedmin umfangreich Mittel und publizistischen Raum erhalten, werden überzeugte Pazifisten (vom Markt?) aus der Öffentlichkeit gedrängt. Hier und heute.
Die Geschichte der DDR-Literatur ist - auch - eine Geschichte verbotener, unterdrückter, gekürzter Bücher oder solcher, die knapp durch die Fänge der Zensur rutschten, oft - wie bei Christa Wolf - in winzigen Auflagen; gedruckt, aber nicht verlegt.
Christa Wolf sah sich sowohl in Ost wie in West schärster Ablehnung ausgesetzt. So enthält das Wort von Günter Grass, über den Gleichlauf der unterschiedlichen Systeme: eine unangenehme Wahrheit.
Die Debatte um den Ole Bienkopp des Erwin Strittmatter, den der Spiegel bereits im Jahr 1998 entdeckte, füllte schon Anfang der sechziger Jahre ein eigenes Buch; denn der Held hatte sich vom Kollektiv entfernt, war, einsam an einem See, verreckt. Das war "Subjektivismus", das Buch wurde nur durch seinen Erfolg vorm Verbot gerettet wie Bruno Apitz' späterer Welterfolg Nackt unter Wölfen, im Arbeitstitel "Der Funke Leben" genannt: Es war der falsche Funke, da die Rolle der illegalen Parteiorganisation im KZ nicht hinreichend berücksichtigt war. Ob Heiner Müllers reichlich peinliche Autobiografie Krieg ohne Schlacht, die von Helene Weigels Diktat seiner klammen Selbstkritik nach dem Verbot seines Stückes Die Umsiedlerin - "Mit stinkender Frechheit abgrundtief das eigene Netz beschmutzt" - erzählt, oder Brigitte Reimanns berührende Tagebücher: Alle authentischen Berichte über die DDR-Kultur sind durchzogen von "Bieler ist die Druckgenehmigung entzogen worden", "Ein Film, der nicht freigegeben wurde", "Der H. hat die Schiwago-Melodie mal in seinem Morgenprogramm abgespielt - das hätte ihm beinahe ein Parteiverfahren eingebracht", "Das Buch soll nicht gedruckt werden", "Der Film von Christa Wolf ist auch gestorben", "Er musste das Buch einstampfen lassen" oder "W. und K. vom ZK können sich über den Maetzig-Film nicht äußern, Walter Ulbricht muss erst seine Zustimmung geben". (...)
Die Abhängigkeit von Zustimmung (nicht: der Leser), die Abhängigkeit von Ideologie vernichten Reflektion und gute Literatur. Wenn ich mich recht entsinne, war deshalb, in Kenntnis dieser Meschanismen, mutiges Rebellentum UND trickreiche Gewitztheit die Haltung von Autoren der Aufklärung.

Es war eine "kommode Diktatur", wie Grass sie einmal nannte, die Grenzen des Erlaubten waren bekannt wie die des Unzumutbaren; zumeist vertraute man sein Unbehagen Tagebüchern oder Briefen an, verkroch sich - wie Fühmann oder Strittmatter oder später Christa Wolf - in die Einöde der Provinz, wo man ungarischen Kognak trank, und räsonierte im Bewusstsein, das Auto, die Datscha, der Verlagsvertrag würden schon erhalten bleiben. Stephan Hermlin, der noch im April 1949 den "sehr geehrten Herrn Professor" Victor Klemperer ermahnte: "Wenn Sie genug Marx, Engels, Lenin und Stalin lesen, dann kennen Sie Ihre Gegner besser als sich selber", wusste durchaus, worauf er sich einließ, als er Ende 1962 in der Akademie junge Lyriker vorstellte, darunter Wolf Biermann und Reiner Kunze. Er übte Selbstkritik vor dem Politbüro des ZK. Er antwortete auf Kurt Hagers Frage "Wie ist deine Beziehung zu Wolf Biermann?" dickköpfig "Ich halte ihn für ein sehr großes Talent".
Kann man sich vorstellen, dass eine derartige Aussage zu großen Problemen führen wird?

Er verlor seinen Akademieposten, aber weder die Villa noch den Westwagen, dessen horrende Reparaturkosten ihm per ZK-Beschluss in Valuta erstattet wurden.

Bequemlichkeit und Wohlstand beschwichtigen (nein: korrumpieren) missliebige Stimmen. Die Zahl der Fälle ist groß, leider.

Jeder Funkredakteur oder Verlagslektor kannte und beherrschte das Spiel "Das bringe ich durch" - oder eben nicht. Es war haargenau dieselbe Situation im Westen, wo ja in allen einflussreichen Medien - von der FAZ über die ZEIT oder die SZ bis zum Spiegel - ehemalige NSDAP-Mitglieder, ehemalige Offiziere aus allen Teilstreitkräften der Naziwehrmacht, des Kriegsberichterstatter-Korps oder Redakteure der immerhin bis 1943 erscheinenden Frankfurter Zeitung die entscheidenden Positionen innehatten: Sieburg und Müller-Marein, Nannen und Süßkind und Höfer.

Nochmal ganz deutlich: Es gab im westdeutschen Fäulleton eine Verbindung aus "Marktwirtschaft" und spätem Nazismus, zudem wirksam in Hinblick auf unsere Kultur. Wehe, wer gegen die diesen weltanschaulichen Konsens abwich!

Dem Kommunisten Emil Carlebach, Häftling im KZ Buchenwald und Abgeordneter des Hessischen Landtags, wurde 1947 die Mitherausgeberschaft der Frankfurter Rundschau von den Amerikanern entzogen. Noch 1998 hielt Martin Walser dem Exleutnant Augstein entgegen: "Ich wäre nicht Leutnant geworden, und wenn der Krieg tausend Jahre gedauert hätte. (...) Du, Rudolf, so wie du bist, wärst in den tausend Jahren General geworden."

Ausgerechnet Martin Walser, mit seiner Todesangst vor "Moralkeulen" sagt das. Und doch könnte er hier recht haben. Ist es nicht beschämdend, wie linke Kritik, wie sie z.B. ein Emil Carlebach geübt hätte, in der jungen Bundesrepublik eleminiert wurde? Zensur strebt nicht nach einer Vielzahl von Stimmen, erst recht nicht danach, der Abweichung Raum zu geben.

Widerständler war jeder

Natürlich gehörten sie alle immer "zum Umkreis des Widerstands", der offenbar so weit wie das Land war. Die Lügenschminke deckte mal ein Gesicht, mal einen Konzern. So erzählt die Autorin Ingeborg Drewitz in ihrem autobiografischen Roman Gestern war heute. Hundert Jahre Gegenwart von einer Seminararbeit, die ihr ein Professor nicht begutachtete, weil sie prononciert gegen die NSDAP gerichtet gewesen sei; dazu in ihrer autobiografischen Skizze Lebenslehrzeit, die die Jahre 1932 bis 1946 umfasst, von ihrer heimlichen Marx-Lektüre. Nicht zu finden ist der Hinweis, dass sie noch im April 1945 bei dem prominenten Naziordinarius der Berliner Universität, Franz Koch, mit der Arbeit Ethische Probleme des Werkes von Erwin Guido Kolbenheyer promoviert hat. Lässliche Sünde.

Ingeborg Drewitz war aber schwerlich eine überzeugte Nationalsozialistin. Die autobiografische Selbststilisierung mag einseitig getüncht worden sein, aber es findet sich in ihrem Leben nichts, das sollte auch gesagt sein, was eine Nähe von Drewitz zu faschistischen Denken belegt. Widerständlerin: Indes, das war sie auch nicht.

Nicht ganz so für den Ablasszettel geeignet die Selbstschutzbehauptungen des größten deutschen Medienkonzerns. Sprecher der Bertelsmann-Firmenleitungen künden gerne von "Widerstandsverlag" und einer Buchproduktion während der Nazizeit, die "als subversiv" verboten wurde.

Wer wundert sich bei den Kräften, die uns die INSM beschert haben, oder die "Du bis Deutschland"-Kampagne koordiniert haben (Bertelsmannstiftung), dass ihnen das Mittel der nützlichen Lüge fremd ist? Es kommt nicht nur von SPRINGER, was in unserem Land stinkt und modert.

Das widerlegte eine - unwidersprochene - Sendung von Monitor am 20. Mai 1999, die den Direktor der Deutschen Bücherei Leipzig mit einer etwas anderen Charakteristik zitierte: "Diese Literatur vermittelte stark antisemitische, rassistische, militaristische Inhalte und die nationalsozialistische Propaganda, und der Bertelsmann-Verlag war einer der herausragenden Vertreter, der solche Literatur produzierte."
Heutzutage verlegt sich die Bertelsmannstiftung auf die Verbreitung von sozialdarwinistischen Denken in Gestalt einer schrankenlosen "freien" Marktwirtschaft und unter Fortfall von Schutzrechten und freier Bildung. Bertelsmann hat publizistische Macht - und nutzt sie.

Bertelsmann, der die antifaschistische Schminke vor allem wegen seiner gigantischen amerikanischen Unternehmen nötig hat, sieht im Spiegel des Historikers Hersch Fischler eher runzlig aus: "Wenn Bertelsmann behauptet, es wäre ein Widerstandsverlag gewesen, dann ist das eine sehr nützliche Legende für Bertelsmann, aber sie hat mit der historischen Wahrheit nichts zu tun. Bertelsmann hatte sehr gute Beziehungen zum Propaganda-Ministerium, zur nationalsozialistischen Partei, und hat diese Beziehungen genutzt, um Geschäfte zu machen."
Das ist m.E. das alte Elende der Rechtsbürgerlichen und Wohlhabenden in Deutschland: Fürs liebe Geschäft wird Wahrheit und Gerechtigkeit gebeugt, solange dies Geld verspricht. Oder haben wir schon einmal eine Kampagne gegen Praktikantenausbeutung seitens der Bertelsmannstiftung erlebt? Eben!

Tatsächlich haben Massenauflagen von Der kleine Katechismus für den braunen Mann, einer Euthanasie-Rechtfertigungsschrift oder in circa 20 Millionen Exemplaren gedruckte Broschüren für den Feldpostbuchhandel - Deutsche Tanks fahren in die Hölle, Wir knacken einen Geleitzug, Der Berg des Blutes, Sturm auf den Annaberg, Ein Stoßtrupp dringt in Warschau ein - zumindest einen Kiesel neben den Grundstein für das Imperium gelegt.

Dies nenne ich eine klassisch-typische tiefe historische Schuld des Rechtsliberalismus, für die auch Bertelsmann steht.

Lässliche Sünde? Als solche, weltlicher ausgedrückt: als notwendiger kleiner Kompromiss wird gemeinhin gewertet, dass Peter Suhrkamp in den Nazijahren - als er, dessen ehemaliger Lektor, das Erbe des S. Fischer Verlags zu wahren hatte - reichlich klebrige Verbindungen zu dem Nazidramatiker Felix Lützkendorf hatte, dessen von rassistischer Naziideologie und schockierender Inhumanität strotzenden Bericht über das besetzte Polen er 1940 verlegte; in Warschau sah der Suhrkamp-Autor "anmaßende Blicke, überputzte Frauen, fette orientalische ,Mammes' mit goldberingten dicken Fingern, schwulstlippige Männer mit schwarzen, pelzgefütterten Überziehern und hartem Hut, ganz auf vornehm. Und dazu dieses schreiende Jiddisch, mit dem sie einander zurufen und sich begrüßen, in dem man immer wieder mit Entsetzen arme misshandelte deutsche Worte entdeckt. (...) Diese Geschichte, diese Gegenwart, wahrhaftig, man könnte Polen einen femininen Staat nennen. Feminin ganz im slawischen Sinn. Alles ist äußerer Glanz. Statt Taten Launen, statt Bündnissen Verlogenheit, Phantasie anstelle von politischer Realität, Geschwätz anstelle von Fleiß, und immer der Drang sich aushalten zu lassen. Der ganze Staat ein Hurendasein. Dazu grausam gegen die Schwachen, mitleidslos gegen die Armen, aber fromm in den zahlreichen Kirchen. Das ist das ewige Polen." Fast überflüssig, hinzuzufügen, dass der gemeinsam mit einem anderen Suhrkamp-Autor vom "Führer" mit dem Kriegsverdienstkreuz Ausgezeichnete - "Es ist der Geist ihres Führers und Feldherren, der sie unüberwindlich macht", hatte er den Einzug der deutschen Truppen in Paris bejubelt; 1942 bei Suhrkamp - auch nach dem Krieg Karriere machte:

Was brachte ihm das ein?

1963 erhielt Lützkendorf den Dramatikerpreis der Münchner Kammerspiele.

Man achte hier in diesem Zusammenhang neben dem Jahr 1963 auf das Wort "Münchner"...

Im Land des Zwinkerns

So war auch der Mut in den westlichen Redaktionsstuben nicht direkt epidemisch verbreitet. Der 1980 von Ost- nach West-Berlin gegangene Schriftsteller Klaus Schlesinger, dessen Buch Leben im Winter in der DDR nicht erscheinen durfte, berichtet von Eingriffen bei der Ausstrahlung eines Defa-Films im westdeutschen Fernsehen: "Als ich mich öffentlich beschwerte und von Zensur sprach, antwortete mir die Redakteurin etwas säuerlich, dass es in der Bundesrepublik keine Zensur gäbe.

So kann man das westdeutsche Zensurproblem auch lösen: Man definiert es weg oder ignoriert es. Oder man verweist auf den osteuropäischen Staatssozialismus, dann sieht Zensur doch mit einem Schlag harmlos aus, oder?

Allerdings habe sie die ,Verantwortung für die Programmgestaltung' und sie könne es dem Publikum nicht zumuten, wenn, wie in einer Szene geschehen, beispielsweise ein DDR-Polizist von der ,Befreiung Berlins durch die Rote Armee' spreche." Lakonisch fasste Schlesinger seine Erfahrungen zusammen: "Im Osten war das Schreiben ein politisches, im Westen ein existentielles Risiko."

Die sogenannte Verantwortung für die Programmgestaltung: Da müsste noch vieles geschrieben werden, gerade über den "freien Westen" mit seiner Neigung zur RTL2-Formaten und "Volksmusik" in der Sendepublizistik. Wer Dreck produziert oder belanglos-harmlose "Hochkultur", der wird bei uns mit Geld zugeschüttet, der trägt kein existentielles Risiko.

Als die Deutsche Grammophon Anfang der sechziger Jahre eine Schallplatte mit Ernst-Busch-Liedern produzieren wollte, über den ich einen Aufsatz veröffentlicht hatte, rief mich der verantwortliche Abteilungsleiter an: "Das kriege ich hier nicht durch.
Interessanter Weise bekam Raddatz die Musik nicht durch, weil sich damals Ernst-Busch-Lieder nicht verkaufen würden, sondern aus Gründen politischer Missliebigkeit.

Vielleicht, wenn ich Ihren Artikel zum ,Abpolstern' auf dem Plattencover drucken darf." Wer sich darüber ereifert, dass Arnold Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau in der DDR - deren gepachteter Antifaschismus ästhetische Barrieren hatte - nicht aufgeführt wurde, darf daran erinnert werden, dass dieser atonale Schrei des Entsetzens nicht direkt die Nationalhymne der BRD war.
Bei aller Reserve gegenüber Nationalhymnen, vielleicht ginge eine atonale Nationalhymne doch zu weit...?! Schönbergs Musik war nun tatsächlich so gut wie unverkäuflich, diese ganze Musikrichtung ist auch nicht sehr fortschrittlich, sondern allenfalls akademisch und unbekömmlich. Nicht einmal reiner Lärm hat auf die meisten Hörer eine derartig verstörende Wirkung. Die Verwechslung von Neuerung, musikalischer Neuerung mit echtem Fortschritt kann man zu den Grundleiden jeder linken Bürgerlichkeit zählen.

1966 schrieb Heinrich Böll angesichts des geplanten USA-Besuchs der Gruppe 47 entgeistert an Hans Werner Richter: "Das allerwichtigste aber: die Vorstellung, dass die Bundesrepublik - was unvermeidlich ist - aus unserem Besuch dort politisch Kapital schlagen wird, verschafft mir eine Gänsehaut! Denn, wenn wir auch dort unsere ,ach so bewährten kritischen' Texte vorlesen, gerade dadurch verschaffen wir diesem Land ja in den USA den Ruf eines freien Landes. Eine fürchterliche Vorstellung! Das einzige, das ein Schriftsteller hier tun kann: den außenpolitischen Kredit der Bundesrepublik in den USA (in dem einzigen Land, wo sie diesen Kredit genießt!) abbauen, abbauen!"

Die Kultur in Nachkriegsdeutschland war nicht die Kultur eines freien Landes.

Die Bundesrepublik war kein Land des Lächelns; eher des Zwinkerns. Die DDR war ein Land des Wegsehens; das Englische hat dafür die schöne Doppelung: I see it but I don't look at it. Man sah, dass man zu den feinen Brecht-Premieren an einem Gefängnisbunker der Stasi vorbeiging, die Fenster mit Brettern vernagelt, but I don't look at it. Victor Klemperer notiert 1947: "Ecke Karlstr bis tief in die Albrechtstr hinein ein rätselhaftes Palastgefängnis, ein Riesenklotz mit winzigsten Fensteröffnungen. (...) Ich weiß nicht, was das war. Bei Doris hörte ich: ein Bunker." Sehr nachgefragt hat er nicht.

Schade, dass es damals noch kein Internet gab! Victor Klemperer wäre ein großartiger Blogger gewesen. Nur, nicht in der DDR.

Von einem Protest des Hausherrn ist nichts bekannt, als der junge Regieassistent Horst Bienek in der Kantine von Brechts Berliner Ensemble verhaftet wurde (und für Jahre in Sibieren verschwand). Auch Proteste der Dame des Hauses hielten sich in Grenzen: "Erst nach nochmals 100 Jahren", sagte Helene Weigel zu dem DDR-Theaterkritiker Ernst Schumacher, als der ihr vorschlug, Volker Brauns Schauspiel Lenins Tod aufzuführen; da war zwar der "Personenkult" offiziell verurteilt, aber von Lenins Testament, in dem er vor Stalin warnt, durfte nach wie vor nicht die Rede sein.
Lenins Warnung vor dem Personenkult sollte von "prowestlichen" Bush-Liebhabern unbedingt gelesen werden. Mehr Lenin-Lektüre, bitte! Dies kritisch, versteht sich.

Schumacher hätte es wissen müssen. In seiner Spielzeiteinschätzung der Ostberliner Bühnen für 1964/65 hatte er drei Stücke angekündigt: Moritz Tassow von Peter Hacks; Der Bau von Heiner Müller; Die Histoire von Kipper Bauch von Volker Braun - "die Regie besorgen Matthias Langhoff und Manfred Karge". Sie besorgten sie nicht. Nur Moritz Tassow wurde aufgeführt. Brauns Stück wurde während der Proben abgesetzt, endlose Diskussionen noch mit Brecht, dann mit Chefregisseur Manfred Weckwerth und der Prinzipalin Weigel führten zu nichts, das Stück wurde im Berliner Ensemble nie aufgeführt und erlebte erst 1972 in Leipzig seine Premiere.
Auch im Sozialismus findet man die Mühen der langen Straßen, nur, dass sie sehr oft in Sackgassen enden.

Es überlebte vor allem in einer Anekdote. Nach dem Theaterbrand der Kleinen Stadthalle von Karl-Marx-Stadt 1976 sagte der Generalintendant Gerhard Meyer, er selbst habe das Theater angezündet - auf Brandstiftung stünden immerhin nur fünf Jahre Gefängnis, auf Aufführung dieses Braun-Stücks aber mindestens zehn Jahre.

Auf Verstoß gegen die Rechte von Rechteverwerten stehen drakonische Strafen, auf betrügerische und knebelvertragliche Beraubung von Musikern durch Plattenkonzerne: Nichts.

Unbequeme Fragen anderer Theaterkollegen im Osten gab es so wenig wie von einem der hochgerühmten Hörspielautoren im Westen, Günter Eich oder Wolfgang Weyrauch, deren Hauptabnehmer /Redakteur/Regisseur schon für den Goebbels-Rundfunk gearbeitet hatte; Eich kannte ihn aus der Zusammenarbeit in jener Zeit, unerquickliche Texte.

Sie halten einander die Waage, die beiden Deutschlands, die Jahrzehnte der Nachkriegszeit hindurch.

Ein traurige und vor allem unangenehme Wahrheit. Der westdeutsche Kulturbetrieb ist freier gewesen, aber keineswegs so frei, dass man sich damit schmücken könnte.

War Hochhuth hier ein "Pinscher" - noch 1986 hatte Bundeskanzler Kohl anlässlich eines Besuchs bei Papst Johannes Paul II. die Umsicht, sich zu entschuldigen, "dass gerade diesem Papst [Pius XII.] durch einen Schrifsteller deutscher Zunge Unrecht geschehen ist" - so "bellte" Biermann laut Klaus Höpcke seine Gedichte. Als 1968 in der DDR die Faust-Inszenierung von Wolfgang Heinz, Intendant des Deutschen Theaters in Ost-Berlin, für Aufruhr (bis zum Verschwinden) sorgte, gefielen sich westliche Berichte in schicken Überschriften wie "Faust voll Marx" - und Klaus Höpcke, Kulturchef des Neuen Deutschland, erkannte sofort auf "Beschädigung der humanistischen Substanz der Faust-Gestalt".

Ein seltsamer Gleichlauf der Systeme.

Es war ja Goethe-Forscher Ulbricht höchstpersönlich, der die Richtlinien zum rechten Verständnis des Dichters ausgegeben hatte: "Erst weit über hundert Jahre, nachdem Goethe die Feder für immer aus der Hand legen musste, haben die Arbeiter und Bauern, die Angestellten und Handwerker, die Wissenschaftler und Techniker, haben alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik begonnen, diesen dritten Teil des ,Faust' mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus zu schreiben."
Heute würden die salbungsvollen Formeln anders lauten. Von wegen Goethe würde das Idealbild eines tätigen Unternehmers repräsentieren, einer, der nicht auf Kosten anderer lebt, sondern mit Mut zur Zukunft Eigenverantwortung beweist usw. usf. Ich habe tatsächlich eine derartige Ansprache hören dürfen.

Und kaum eine Silbe wird über die beschämenden Kürzungsorgien bei den Goethe-Instituten gesprochen, mitten, während man unnötigste Miliardenausgaben für Transrapid und Militär wuchtet. Stattdessen: Schweigen und fast vollständige Stille. Das westdeutsche Fäulleton ist nicht frei, sondern lebensfern und verrottet.

Der Tenor der Attacken im Neuen Deutschland, zwischen "Faust verkörpert das junge revolutionäre Bürgertum" und "Gerade weil die Arbeiterklasse so gewaltige Kraftanstrengungen zur Lösung der Epochenaufgabe unternimmt" ist nur zu verstehen, wenn man weiß, dass die militante Abwehr eines "individualistischen" Faust neben einem drei Seiten des Blattes füllenden Artikel von Walter Ulbricht steht: Der Prager "Revisionismus" soll in Schranken gehalten, die harte Linie der 11. Tagung des ZK der SED soll verteidigt werden. Es geht um Politik, nicht um Literatur.

Das freie Individuum macht sich schnell verdächtig, ob es als Lohnabhängiger sich vorwitzig äußert, oder dann, wenn es Freiheiten nicht nur dem Wort nach in Anspruch nimmt. Wo man seine ungebetenen Meinungen fürchtet, finden sich Wege, um es mundtot zu machen.

Genau das hatte Günter Grass kurz zuvor in einer Panorama-Sendung des Norddeutschen Rundfunks dem Zeitungshaus Springer vorgeworfen, sogar von "faschistischen Methoden" gesprochen: Die Berliner Morgenpost hatte eine - viel nachgedruckte - Falschmeldung über einen Brief Arnold Zweigs verbreitet, in dem er das Leben in der DDR als "Hölle" bezeichnet und geschrieben habe: "Die DDR ist weder deutsch noch demokratisch." Diesen Brief gab es nicht, bei Springer hatte man schlecht beziehungsweise gar nicht recherchiert und fahrlässig-triumphierend einen renommierten Schriftsteller quasi ans Messer geliefert.
Darf man schreiben: Die SPRINGER-Presse lügt, wenn es zu den politischen Plänen von SPRINGER passt? Ja, wenn man sich einen guten Rechtsanwalt leisten kann. Mit dem Mittel der "Abmahnung" und "einstweiligen Verfügung" können mittlerweile sehr viele Ansichten zum Verschwinden gebracht werden. Wer traut sich z.B., über Zustände bei seinen Arbeitgebern frei, öffentlich und wahrheitsgemäß Auskunft zu geben? Kaum jemand, will derjenige sich nicht ans Messer liefern. Ist die Freiheit der Starken Freiheit?

Der Grass-Kommentar, in dem es hieß, dass "die Springer-Presse wie ein verfassungswidriger Staat im Staat die demokratische Ordnung der Bundesrepublik verletzen konnte", hatte die Öffentlichkeit wachgerüttelt, der Pressewirbel gebar Dementis, Richtigstellungen, Prozesse und Schmähungen; der Autor der ewig umstrittenen Blechtrommel - 1960 wurde ihm der Bremer Literaturpreis verweigert - hieß nun in allen Springer-Zeitungen (die sich bei Arnold Zweig nie entschuldigten) der "Dichter mit der Dreckschleuder", "rosaroter Erfolgsschriftsteller", "rot angehauchter Modeschriftsteller" und "redet Ulbrichts Propaganda-Chinesisch".

Günter Grass ist diesen politischen Kreisen auch heute noch ungemein verhasst. Nur mit dem Unterschied, dass sich nunmehr auch "Liberale" mit dieser repressiven Haltung gemein machen.

Er hatte keinen Faust inszeniert und nicht den Mephisto gespielt. Er hatte - übrigens im Osten ein nichtgedruckter Schriftsteller - lediglich einem DDR-Kollegen zu seinem Recht verhelfen wollen. Was im Neuen Deutschland "Position des Klassenfeinds" genannt wurde, hieß in der Welt "Brunnenvergiftung". In der DDR hieß es "Kommt Zeit, vergeht Unrat": Das sagte Hermann Kant, Präsident des DDR-Schriftstellerverbands, über den (ausgereisten) DDR-Schriftsteller Reiner Kunze. Es ist dieselbe Sprache. Es ist dasselbe Denken.

Es ist dieselbe Sprache. Es ist letztlich dasselbe Denken. Leider. Es bestimmt den gesellschaftlichen Diskurs. Nur, dass diese ost-westdeutschen Gräben verschwunden sind und dafür neue errichtet werden, zum Beispiel "der Sozialstaat". Die braven Bürger haben Angst vor den sie beraubenden "Sozialschmarotzern". Die Welt der Literaten mag friedlicher geworden sein, die Welt der normalen Bürger ist dies nicht.

Ist es nun, nach dem Fall der Mauer, von der ja ständig gesagt wird, sie existiere in den Köpfen weiter, noch immer dieselbe Sprache, dasselbe Denken? Ich glaube: nein. Gewiss, es gibt Angriffe, Verrisse, Infamien sogar; der alte Fuchs Friedrich Sieburg wusste bereits: "Wer nicht unter Literaten gelebt hat, weiß nicht, was Hass ist."
Wer schreibt, der hasst? Vielleicht. Man sollte einen großen Unterschied machen zwischen denen, die aus Menschenliebe hassen, und denen, die aus Dummheit, Engstirnigkeit oder zur Wahrung ihrer Interessen hassen.

Wohl auch politisch grundierte Auseinandersetzungen - im alten Westen mit Botho Strauß oder Peter Handke, im alten Osten mit Heiner Müller oder Christa Wolf. Es gibt auch politisch motivierte Interessen und Desinteressen: Als ich 1997 auf Anfrage der deutschen Arte-Redaktion Mitarbeit an einem Film über Johannes R. Becher anbot, ganz gewiss ein Zeuge unseres Jahrhunderts und eine vielfacettierte Schriftstellerpersönlichkeit, erhielt ich einen Zweizeilenbrief: Ich möge mich an einen "Ostsender" wenden.

Noch 1997?

Von derlei wäre noch immer viel zu berichten. Allzu lange ist es noch nicht her, dass man einen DDR-Schriftsteller auf Westbesuch fragte, wie lange er denn schon in Deutschland sei, es in Sportreportagen ganz selbstverständlich hieß "Auf Platz eins kam Schulze aus der DDR, bester Deutscher war Meier" und der Ostberliner Lyriker Uwe Kolbe notieren musste: "Krönung war dabei die Frage einer Westberliner Verwandten, als ich sie von einer Westberliner Telefonzelle aus anrief, wie lange ich denn jetzt in Berlin sei. Mein Leben lang, liebe Tante."

Der Raum, der wahrgenommen wird, wird damit sehr deutlich. Aus der Frontstellung der kalten Kriegs heraus verengte sich die Wahrnehmung.

Der Kalte Krieg ist ausgekämpft

Zu berichten ist aber auch von der großen Resonanz im Westen auf Thomas Brussigs DDR-Roman Helden wie wir, vom entdeckerischen Interesse des Westens an Autoren wie Durs Grünbein oder Bernhard Schlink, von FAZ-Abdruck und Lob der Arbeit Monika Marons, Stieftochter des DDR-Innenministers Karl Maron und zeitweise Stasi-Zuträgerin, vom "Wessi in Weimar"-Erfolg Rolf Hochhuths in den neuen Ländern, von den vollen Sälen, wenn Günter Grass in Leipzig oder Halle liest, vom Alterspräsidenten des Bundestags Stefan Heym und vom PEN-Präsidenten Christoph Hein - der erzählen kann, wie suspekt er einst den zuständigen Ministerien und dem Genossen Hager war, und der sich erinnert: "Es gab bei uns damals diesen Witz: Die Kulturpolitik der DDR wird von der FAZ gemacht.

Das würde Marcel Reich-Ranicki gerne hören! Inzwischen kann man fragen, ob überhaupt noch Kulturpolitik gemacht wird. Es wird zwar viel Geld für Hochkultur und das Alibi weggetan, aber...

Ich war dankbar im Sinn von Arno Schmidt, der schon früh gesagt hat, er danke dem lieben Gott jeden Tag dafür, dass es die DDR gibt, und er hoffe, dass es in der DDR einen Kollegen gibt, der gleichermaßen dafür dankt, dass es die BRD gibt. Es sei hilfreich, wenn jeweils auf der anderen Seite jemand ist, der aufpasst und beruhigend einwirkt." Auf die Frage "Fehlt Ihnen die DDR?" antwortete er: "Nein, mir fehlt die BRD, die alte BRD."

Das Fehlen der alten BRD betrifft nicht nur die Welt der Literatur.

Die Nachkriegszeit ist zu Ende gegangen. Pars pro toto kann man es ablesen, wenn man Heft 1 des im Jahre 1979 gegründeten Freibeuters und das 1999 erschienene letzte Heft Nr. 80 dieser temperamentvoll mutigen Zeitschrift des Wagenbach-Verlags in die Hand nimmt.
Man beachte auch den Namen der Zeitschrift: Freibeuter.

Was sind die "Besonderen Kennzeichen"? In Heft 1 ein wichtiger Text von Franz Fühmann und ein von Wagenbach besonders intensiv geführtes Gespräch mit Stephan Hermlin, in dem dieser von Teo Ottos Rat des Jahres 1945 "Gehen Sie doch nicht nach Deutschland" über die historische Anekdote, dass in der Schlacht von Frankenhausen die reaktionären Truppen des Grafen Mansfeld und die aufrührerischen Haufen Thomas Münzers beide niederknieten, um "Ein feste Burg ist unser Gott" zu singen, bis zu dem Satz "Ich lege keinen Wert auf ein Gesamtdeutschland" seinen Deutschland-Horizont ausmalt; im letzten Heft kein DDR-Autor der ehemaligen DDR. 1979 nicht nur Celans Todesfuge und Peter Weiss' zentraler Text Meine Ortschaft, sondern auch Alexander Kluges grausige Mitschrift des Tagebuchs jenes Auschwitz-Lagerarztes, der 10 717 Häftlinge ins Gas schickte, einen "Liebesversuch" zweier Aufgepäppelter zur Überprüfung seiner Sterilisationsexperimente protokollierte und nach 1945 auf seinen Lehrstuhl nach Münster zurückkehrte;
Die Freibeuter begannen also mit einem engagierten und verantwortlichen Umgang mit deutscher Gegenwart.

1999 Ruth Klügers Erfahrung aus den achtziger Jahren: "Ich verfasse eine harmlose Parodie auf ein abstruses Gedicht von Celan. Leute, die ich noch nie schockiert habe, sind schockiert. Über Gott und Goethe darf man lästern, der Autor der ,Todesfuge' ist unantastbar." Damals Aufbruch und kritische Energie mit Texten von Peter Brückner oder Alfred Sohn-Rethel; jetzt eine hübsche Satire Drei Tips für ein glückliches Leben. Vor 20 Jahren die Analyse von Margaret Walters Buch Der männliche Akt; nach 20 Jahren eine glanzpapierverdächtig-banale "Ehebruch"-Geschichte. Ermüdung oder Normalität?
Ermüdung bzw. fehlender Spirit.

Der unsentimentale Abschied von den Lesern zitiert die Werbekarte des ersten Heftes: "Der Freibeuter bringt Politik und Kultur zusammen. Er stellt auch Beute vor, die er außerhalb von Etsch und Maas gefunden hat. Er velwechsert manchmal lechts und rinks." Weggelassen ist der Satz, mit dem dieser Text damals endete: "Er will sich mit Ihnen unterhalten."

Kein übles Programm, eine ambitionierte Verbindung von Kultur und Politik, internationale Ausrichtung, geistige Offenheit, Debatte, Interaktivität und Unterhaltsamkeit.

Das Wort Unterhaltung meint beides, Amüsement und Diskurs; von Diderots Jacques le Fataliste bis zu Brechts Keuner-Geschichten probates Mittel der Aufklärung. Sind wir nun statt aufgeklärt abgeklärt?

Statt aufgeklärt abgeklärt: Willkommen in den Nullerjahren!

Ob der junge Herr Ostermeier in Berlin Shoppen und Ficken inszeniert oder der alte Herr Zadek in Hamburg Gesäubert, ist nicht mehr eine Frage, die ein ZK entscheidet oder ein Kulturdezernent, der Klassenmoral oder der klassenlosen A-Moral, ist nur mehr eine Frage der Ästhetik;
Reine Ästhetik wird schnell zu einer eine ekligen Sache, oder aber noch schlimmer: belanglos.

Niemand - kein Politbüro und keine Aktion saubere Leinwand der CDU - hat Schlöndorffs Film Der Erlkönig abgesetzt; er war nur misslungen und verschwand. Und Gelungene verschwinden, weil der Zensor namens Markt sie nicht akzeptiert.

Das Wort "einst" hat einen schönen Doppelklang, es verklammert das Vergangene mit dem Künftigen. Die alten Kämpfe sind ausgekämpft. Neue kommen.

Im Augenblick leben wir in einer seltsam kampflosen Zeit. Da weder unser Leben, noch unsere Gesellschaft gleichgültig sind: Lasst uns das ändern!

5 Comments:

At 28 Mai, 2006 22:56, Anonymous Anonym said...

Dass sich die "junge DDR" und die "junge" BRD in Sachen Zensur und Obrigkeitsstaat weitgehend parallel entwickelten, ist kein Zufall; es erklärt sich aus der gemeinsamen "Frontstaatenrolle" im "Kalten Krieg" - und in der gemeinsamen autoritären Denktradition. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass die BRD erst nach "68", also einer kleinen und durchaus geglückten Kulturevolution wider der autoritären Tradition, die de facto-Zensur "unbequemer Themen" gelockert wurde.
Was Alan Posener polemische Kritik an Günter Grass angeht: in vielem gebe ich Posener recht. Vor allem für das hier:
Und es tut mir leid um den bei Kursk Krepierten, weiß Gott, aber starb nun einmal für die falsche Sache, das muß einmal irgendwo gesagt werden; und ich will meinen Vater und die britische Armee nicht verklären, aber er kämpfte in ihren Reihen für die richtige Sache, und das macht einen Unterschied, Herr Grass.

Um einen diesen Unterschied, um die Sache, nämlich um den Kampf für oder gegen universellen Menschenrechte, geht es meines Erachtens auch in der Zensurfrage.
(Zensur ist immer falsch und ein Zeichen von Schwäche. Selbst wenn ich z. B. Troll-Kommentare aus meinem Blog lösche, sehe ich das als ein Eingeständnis der Schwäche. Ich habe nur die Rechtfertigung, dass ich tatsächlich schwach bin. Mein Ideal: Recht auf freie Meinungsäußerung. Punkt.

Moralisch gesehen war die Zensur "West" genau so falsch wie die die Zensur "Ost", allerdings konnte die bedrückende (Selbst-)Zensur in der BRD schrittweise und ohne gewaltsamen Umsturz gelockert, ja weitgehend überwunden werden. Das "System" bürgerliche Demokratie plus Kapitalismus - wurde immer stärker durch die Zensur, als durch das Fehlen von Zensur bedroht. (Der de facto Zensur durch die (abgeblichen) Erfordernisse des Marktes liegt ein anderer Mechanismus zugrunde als der politischen Zensur, auch wenn sie sich politisch auswirkt. Es gibt in der Tat eine totalitäre Ideologie "des Marktes", allerdings ist sie schwerlich Staatsdoktrin.)
Die DDR konnte die Zensur nicht abschaffen oder wenigstens lockern, ohne die Stablität ihres politischen Systems zu gefährden. Das, und nicht das Ausmaß der Schikane und Gängelei, ist der entscheidende Unterschied zwischen "Zensur DDR" und "Zensur BRD".

 
At 29 Mai, 2006 12:40, Blogger John Dean said...

@martinM: Wow! Du hast den ganzen Artikel gelesen! Und Du hast recht, das Ausmaß macht einigen Unterschied.
@Somlu: Danke für den Hinweis! Geändert.

 
At 29 Mai, 2006 16:05, Anonymous Anonym said...

Ein Dank an Dr. Dean...sehr provozierend! Auf gut Englisch: You really outdid yourself this time!

 
At 29 Mai, 2006 16:36, Blogger John Dean said...

@david
Danke! Es war garnicht so einfach, auf Dein nüchtern-trockenes "Yes." und Deine Argumentation noch einen drauf zu setzen. I suppose my slogan "Let democracy prevail" is a bloothbath for neocon Weltanschauung in the context of a withdrawal discussion.

 
At 28 Dezember, 2007 19:29, Anonymous Anonym said...

von david danach befragt, was wir im osten lesen konnten, bin ich auf diesen eintrag gekommen. sehr lesens- und dankenswert. was ich hiermit tue. erst am ende sah ich, daß david hier bereits gelesen und kommentiert hatte.

 

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