02 April 2006

Linksliberale Hauptschulen

Von der Horrorpenne zur Vorzeigeschule

Hauptschulen müssen kein Horror sein: Wie es anders geht, zeigen Schulen in Berliner Problembezirken. (...) "Vor dreißig Jahren war die Ausgangslage bei uns ähnlich: Lehrer, die mit Eiern beworfen wurden, weit verbreitete Respektlosigkeit, Stühle, die aus dem Fenster flogen und eine überalterte, zum Teil frustrierte Kollegenschaft." Einst war die Werner-Stephan-Oberschule in Berlin-Tempelhof ein Unort (...)

Doch in Tempelhof wurde von einem engagierten Kollegium ein kleines Wunder vollbracht - heute gibt es mehr Bewerber für die Schule als Plätze. Haag, seit über 20 Jahren Vertrauenslehrer, ist mit den Jahren älter geworden, "aber keineswegs frustriert", erzählt er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. (...)

30 bis 40 Nationalitäten werden hier unterrichtet. Das bedarf zunächst einmal fester Regeln - und die werden selbst erarbeitet. Einmal im Jahr treffen sich die Klassensprecher bei Haag in der Wohnung, um sich ihre eigene Schulordnung zu geben. Das Prinzip hat sich bewährt. (...) Schüler schlichten heute die Streitereien selbst, Unbefugten verweigern sie den Zutritt. Gemeinsam mit einem Lehrer stehen jeweils zwei Vertrauensschüler morgens an der Schulpforte. "Fremde kommen gar nicht erst auf unseren Hof", sagt Haag.

Das Konzept der Schule könnte so umschrieben werden: Zuwendung, Teilnahme und Verantwortung. Eine Grundvoraussetzung sei das Verhältnis von Lehrern und Schülern (...) Und so lernen die Kinder an der Schule, was zuhause schon lange nicht mehr gilt: Absprachen einzuhalten, sich gegenseitig zuzuhören, zu respektieren. Was Unruhe in den Unterricht bringt, ist tabu. Handys müssen vor dem Unterricht ausgestellt werden, wer sich nicht daran hält, ist das Gerät los - nur die Eltern können es abholen. Die Schüler lernen Verantwortung zu übernehmen, erstellen Putzpläne für die Klassenzimmer, betreiben eine eigene Cafeteria. Sportveranstaltungen sollen helfen, Aggressionen abzubauen. Streetball-Turniere werden organisiert, die Schüler sind ihre eigenen Schiedsrichter - das schafft Verantwortung und Selbstbewusstsein.

Wer sich prügelt, wird angezeigt (...)
Viele kommen aus unteren Schichten. So wird denn in Tempelhof intensiv gefördert - es gibt altersgemischte Klassen für Schüler, die keine Deutschkenntnisse haben, es gibt Integrationsklassen. (...)

Eine der wichtigen Fähigkeiten für das Leben nach der Hauptschule sei die Kommunikation, sagt Haag: "Wenn an einer Schule Aggressivität und Respektlosigkeit vorherrscht und man sich selbst so verhält, dann hat man auch keine Chance bei einem Vorstellungsgespräch." (...)

So haben sich an der Moabiter Schule drei ältere Frauen, allesamt Deutsche, bereit gefunden, den Schülern unter die Arme zu greifen. Sie nehmen am Unterricht teil oder betreuen Schüler danach.

Bei allen pädagogischen Bemühungen, das eigentliche Problem aller Hauptschulen heißt: Was kommt danach? Wofür lernen wir? Die Moabiter Schule schickt deshalb, wie auch die Einrichtung aus Tempelhof, Schüler zu Praktika in Betriebe und Unternehmen. (...)

Und hier der vollständige SpOn-Artikel von Severin Weiland.

Wie ich bei der Bergradlerin schrieb: Fernab der Ideologie des Wirtschaftsliberalismus gibt es viele Möglichkeiten. Ich empfehle, sich dass man sich auf diejenigen Dinge konzentriert, die sich in vergleichbaren Fällen in der Praxis als erfolgreich heraus gestellt haben (siehe oben).

Dazu gehören lebendige Demokratie, die Stärkung und Förderung der Schüler, Übergabe von Verantwortung, selbst erarbeitete Regeln der Schüler, deren Durchsetzung, Schaffung von Teilnahmemöglichkeiten, Zuwendung, Organisierung betrieblicher Praktika usw. usf.

Anstelle von Sozialdarwinismus.

9 Comments:

At 02 April, 2006 13:00, Anonymous Anonym said...

Aber eine Hauptschule darf es schon sein. Warum eigentlich? Von Forderungen der Wirtschaft abgesehen

 
At 02 April, 2006 17:51, Blogger John Dean said...

Warum Hauptschule? Gute und sehr prinzipielle Frage. Schaut man nur auf Finnland als angeblich weit überlegenen PISA-Gewinner, ist die Frage nahe liegend.

Schaut man sich die Daten genauer an, dann wird man z.B. herausfinden, dass die Gesamtschule, dort, wo man sie in Deutschland eingeführt hat (und jetzt kommt) nicht unbedingt schlechter abschneidet.

Aber auch nicht besser.

Schaut man sich die verfügbaren Daten (also: auch außerhalb der PISA-Studie) nochmals und nochmals an, dann könnte man zum Schluss gelangen, dass eine einigermaßen konforme Lerngruppe (v.a. konform in Bezug auf das Lernvermögen) den Bildungserfolg signifikant erhöht.

Betrachtet man z.B. Hauptschulen in Bayern, so wird man finden (teils auch in Hauptschulen mit starken Migrantenanteilen), dass nicht etwa "die Hauptschule", sondern in besonderen Maß deren Organisierung eine Rolle spielt.

Das heißt: Auf die Organisierung von Schultypen (ob ein-, zwei-, drei- oder viergliedrig) kommt es zunächst einmal für ein gutes Lernen nicht an.

Das bedeutet, wenn es denn stimmt was ich hier sage, dass der Aufwand für die Umgliederung des Schulsystems eine weitgehend nutzlose und an den Bedürfnissen der Schüler vorbei gehende Maßnahme ist. Damit würden Mittel gebunden, die man z.B. für pädagogische Verbesserungen oder zur Erhöhung der Durchlässigkeit (sehr wichtig!) der Schultypen einsetzen könnte.

Und nun von einer anderen Betrachtungsrichtung

Das andere Problem ist natürlich nicht die Schulqualität, sondern das Schicksal der Schüler. Wenn dieses vor allem an der gewählten Schulform hängt, dann haben wir ein extrem massives Problem, das m.E. sogar rechtfertigen könnte, alle vorhandenen Schulformen abzuschaffen zugunsten einer Einheitsschule.

Mir graust es vor dieser Idee.

Am Ende erhielten wir m.E. - auch aus verfassungsrechtlichen Gründen kaum vermeidbar - ein Nebeneinander aus einer staatlichen Einheitsschule (deren Niveau unter dem Organisationsstress der Zusammenlegung voraussichtlich sinken wird) neben besseren Privatschulen, wo sich dann die künftige Elite des Landes ausbilden lässt.

Es gäbe hier noch viele weitere Bedenken gegenüber der Abschaffung von Schulformen.

Chancengerechtigkeit ist aber kein so schwaches Argument, das man so einfach wegwischen kann. Das heißt dann auch, wenn man darauf verzichtet, den Schultypus Hauptschule abzuschaffen, dann muss noch allerhand geleistet und vor allem verändert werden.

In meinem Blogbeitrag (bzw. dem tollen Beitrag von Herrn Weiland) sollte etwas klarer sein, welche Möglichkeiten man hätte.

Dazu käme noch - hier nach guter, links- und ordoliberaler Schule - ein massives Eingreifen in den Ausbildungs"markt" dahingehend, dass man erhebliche (!) Anreize zur Erhöhung von Ausbildungsplätzen in der privaten Wirtschaft schafft.

Ich bin durchaus nicht der Meinung, dass die sogenannten "überbetrieblichen Lehrstätten" (gemeint sind hier die teuren staatlichen Institutionen) den jungen Menschen ein gutes Fundament für die Zukunft liefern.

Meine Grundidee: Private Firmen, die ausbilden, sollen profitieren, die übrigen zahlen. Anreize an Stelle der Schaffung staatlicher Institutionen.

Ja, und ich hör sie bereits jaulen, sollte das wirklich zum Programm werden, die Herren aus der privaten Wirtschaft, die doch am Liebsten völlig unbehelligt blieben, von gesellschaftlichen Anforderungen beispielsweise.

Getan werden muss es trotzdem.

 
At 03 April, 2006 01:52, Anonymous Anonym said...

Was ist mit dem Humboldtschen Bildungsideal? Haben die Hauptschüler kein, oder nur ein reduziertes Anrecht darauf? Eine Allgemeinbildung, wie der bildungsbürgerlich heißgeliebte Goethe sie noch proklamierte, ist doch heute eine Luxusartikel und ein Statussymbol, mit dem man sich von der "Unterschicht" abhebt, etwa mit ziselierten Plaudereien wie diesen. Erfahren Hauptschüler z.B. von Bourdieu? Ginge es sie nicht an, was er sagt? Mehr als uns? Hat das nicht auch mit Chancengleichheit zu tun: sowas zu wissen?

Dazu kommt, was in keinem der Zeitungsartikel steht: Als ich zur Grundschule ging, wurde uns Kindern dort noch glaubhaft vermittelt, daß man sich später einmal den Beruf sucht, der einem gefällt, den man besonders gut kann. Selbstverwirklichung also. Je höher die gesellschaftliche Schicht, desto selbstvertändlicher darf das gefordert werden. Eine solche Forderung in einer Hauptschule zu stellen klingt heute dagegen bestenfalls nur noch naiv, eher schon wie Anstiftung zum Aufruhr.

Das sind die Perspektiven, die diese Gesellschaft ihrer Jugend grossteils bietet, übrigens nicht mal nur mehr den Hauptschülern, nur denen wird eben traditionell besonders wenig geboten. Der mieseste Arbeitsplatz, auch wenn einem die Arbeit überhaupt nicht liegt, soll da gefälligst schon Anlass zur Freude sein. Soviel Pragmatismus, wie man in der eigenen Jugend keinesfalls aufbringen mochte, verlangt man ganz selbstverständlich von ihnen. Keine Rede von den "Bildungsreisen", "Sabbatjahren", und welchen Vergnügungen man selbst sonst fröhnt. Sie sollen gefälligst rackern, wofür auch immer. Ihre Sprache, ihre Musik, ihre Computerspiele, ihre Stars werden verächtlich gemacht, sie werden als verhaltensgestörte Kommunikationskrüppel dargestellt, die auch alles flasch machen, was man nur falsch machen kann. Reagieren die Schüler auf all das mit Nihilismus, ist natürlich keinesfalls diese Gesellschaft schuld, sondern Eltern, Lehrer, Kuschelpädogogik, Unterschichtenfernsehen, zuviel Religion oder ein Mangel an dieser, je nach Perspektive und zu kochendem Süppchen.

Aber welche Existenzberechtigung mag eine Gesellschaft denn noch haben für die, denen sie nichts besseres anzubieten hat als immerwährenden medialen gute-Laune-Terror, Klingeltöne, subtilen westliche-Werte-Rassismus, herunterzuschluckenden Neid, und ein von vornherein aufgestempeltes Versagerimage. Sind die randalierenden Rütli-Schüler das Problem, oder ein Symptom? Ganz altmodisch gefragt.

 
At 03 April, 2006 12:38, Blogger John Dean said...

@Anonym
Ich glaube nicht, dass man einen guten Dienst an den Hauptschülern leistet, in dem man sie (und dabei ausgerechnet sich auf Humboldt berufend?) mit Bourdieu vollstopft.

Was soll das?

Eine andere Idee, hier dem Geist von Humboldt näher kommend, nämlich die "Gemeinschaft aus Lehrenden und Lernenden" halte ich für umso notwendiger - gerade in der Hauptschule.

Es macht den Eindruck, dass Hauptschulen dort besonders gut funktionieren, wo Lehrer und Schüler einander nahe sind.

Ich bin allerdings in Schulfragen weder umfassend kompetent noch Wissenschaftler genug, noch habe ich hier zuverlässige Informationen, um diesen Gedanken auszubauen oder seine Wertigkeit zu beurteilen.

Es ist aber mein Eindruck. Möglicherweise ist dieser Aspekt einer der Gründe dafür, dass es in den "positiv gewendeten Katastrophenschulen" wieder gut läuft.

Ein anderer Aspekt ist für mich, die Frage des "komparativen Wettbewerbsvorteils" als Ergebnis von Bildungsbemühungen. Das klingt villeicht zunächst zynisch, gerade, wenn man Bildungsergebnisse aus schlechten Hauptschulen kennt.

Anders gefragt: Was können Schüler besser, die aus diesen Bildungseinrichtungen kommen?

Wenn man
a) marktnah vorgeht
b) sich an realen Schülerinteressen orientiert und nicht zu letzt
c) deren reale Chancen am Ausbildungsmarkt bedenkt,
dann kommt dabei nicht das Bildungsideal von 1870 heraus, auch nicht in aktualisierter Form, so schätzenswert es übrigens auch ist.

Ich glaube, aber das müsste man eingehender prüfen, dass eine "praktische Orientierung" hier sehr viel bringen könnte.

Das heißt: Man lehrt diesen Hauptschülern die Grundlagen gleich mehrerer praktischer Berufe (übrigens: mit Wahlmöglichkeiten für die Schüler), sodass dann jeder Hauptschüler bei Abschluss "was auf dem Kasten hat", und z.B. ganz beachtlich malern, schreinern oder auch autofahren kann. Oder in intensiven Wahlkursen je nach Neigung/Befähigung auch das Übersetzen oder diverse Fertigkeiten am Computer (z.B. Grafikdesign, Textverarbeitung) erlernen.

Ergebnis (vielleicht gibt es ja schon Schulexperimente in dieser Richtung): Selbstbewusstere Schüler, nützliche Befähigungen und ein echter Wettbewerbsvorteil am Ausbildungsmarkt gegenüber anderen Schulformen, wo dieser oft verpönte (warum eigentlich?) praktische Bezug eine deutlich geringere Rolle spielt.

Ich meine mit diesem Vorschlag auch keinen öden "Werkunterricht" von anno dunnomals bzw. nach dem Vorbild bekloppter Kunstlehrer, keine "sinnlichen Erfahrungen mit Werkstoffen" als Selbstzweck, auch keine endlos-gehaltlose "Berufsorientierung", bei der dann am Ende rein garnichts gelernt wird, sondern wirklich etwas Handfestes, also die echte und intensive Vermittlung von Fertigkeiten, sowie die Förderung des Schülers je nach seinen persönlichen Anlagen.

Tja, ist nur eine Idee, vielleicht sogar keine gute. Ich bin mit Sicherheit auch nicht der Einzige oder Erste mit solchen Ideen. Gewiss nicht. Man betrachte z.B. dies hier , und stelle sich dann vor, dass die "Dosis" nochmals erhöht wird.

Keine Ahnung, ob man auf diesem Weg zu etwas Ausgewogenen und Vernünftigen gelangt (das wäre z.B. einer meiner Zweifel), aber irgendwie vertraue ich dieser Richtung etwas mehr als einer Vermittlung von "Bourdieu", auch, was den Aspekt der Selbstverwirklichung angeht.

Um nochmal ein Stichwort aufzugreifen, wo wir uns beide einig sein dürften:

Kuschelpädogogik.

Bah! Wenn ich diesen unsachlichen-blöden Vorwurf nur höre, kann ich jedesmal kaum glauben, was für ein Schindluder mit Worten getrieben werden kann.

Ich persönlich vermute, dass diejenigen, die von angeblicher "Kuschelpädagogik" sprechen, und dies ausgerechnet in Bezug auf Hauptschulen,
a) völlig inkompetent sind
b) ein verachtenswertes Menschenbild haben und überdies
c) oft einen massiven Dachschaden.

Wer glaubt, man könne Schulprobleme vor allem durch "weniger Kuschelpädagogik" lösen, der hat gegenüber Schülern eine unpädagogische Haltung, ja, oft sogar einen Schuss Sadismus.

Man kann sogar angeben, woher diese sadistisch-feindselige Haltung oft kommt: Als ein Ausfluss des Leistungs- und Wettbewerbsdrucks in der "freien" Wirtschaft, und der geradezu wilheminisch zackig daherformulierende Feind der "Kuschelpädagogik" möchte gerne andere Menschen (und zwar so früh wie möglich) leiden sehen.

Sehr viel mehr ist das nicht.

Nunja, vielleicht ist das Vertrauen darauf, dass eine "freie Wirtschaft" bzw. deren Vertreter ein positives Verhältnis zu Freiheitsrechten haben oder gar zur freien Entfaltung von Persönlichkeit, am Ende nur das Ergebnis eines haltlos willkürlichen Gedankens.

Mitunter lehnt das allzu allfällige Gelaber über die Kuschelpädagogik auch "nur" den Gedanken ab, dass man jeden Schüler fördern müsse.

Eine derartige Überlegung ist für stramme Wirtschaftsliberale (nennen wir es ruhig beim Namen) unerträglich. Die Untauglichen solle man doch bitteschön kostengünstig entsorgen...!?

Und umgekehrt: Ich betrachte das von diesen Leuten (also die perverse "Schluss-mit-lustig"-Fraktion in der Bildungsdiskussion) verbreitete Menschenbild für den Ausdruck einer Hassideologie (!) (übrigens spielt der Begriff Kuschelpädagogik bei den sogenannten "Liberalen" in der FDP eine verblüffend große Rolle), sondern mehr noch es als einen Angriff auf die Würde des Menschen bzw. hier: von Schülern.

Ein Nachwort

Ein Sprichwort sagt: "Satte Vögel singen nicht". Ein Vogel, der verhungert, singt allerdings gar nicht mehr. Man sollte von Hauptschüler nicht unbedingt viel Motivation erwarten, die ohne Aussicht auf Lebenserfolg mit Drillmethoden oder Formen von Leistungsstress "unterrichtet" werden, wie dies von konservativen bzw. "liberalen" Bildungspolitikern mitunter als Fortschritt versprechendes Instrumentarium vorgeschlagen wird.

Die Quintessenz aller Bildungsprogrammatik aus dieser Ecke besteht tatsächlich darin, "Schüler zur Disziplin zu erziehen" (wie jüngst Schäuble kund tat).

Irgendwann kommt es hierzulande vielleicht noch so weit, dass man "Boot camps" für Haupstschüler verlangt.

Peinlich finde ich, dass diesem Papageiengeplapper von sozialdemokratischer Seite sehr oft der Ruf nach "Gesamtschule" entgegen gehalten wird, und so haben wir in der öffentlichen deutschen Bildungsdiskussion immer wieder das selbe dümmliche Geschnatter aus "Disziplin!" vs "Gesamtschule!", und zwar völlig egal, worüber gerade konkret gesprochen wird.

"Man muss am Rande des Abgrundes das Gute nicht aufgeben", meinte schon Wilhelm von Humboldt.

 
At 03 April, 2006 15:30, Anonymous Anonym said...

Warum das abfällige Urteil über Bourdieu? Was ich damit meinte, ist, Hauptschüler auch über unsere Gesellschaft und ihre internen unausgesprochenen Regeln, über Dinge wie "sozialen Status", soziales/kulturelles Kapital, Distinktion aufzuklären. Weil sie diesen Dingen oft genug begegnen werden - als Unterlegene. Dieses Wissen selbst ist ja wiederum kulurelles Kapital. Sie sollen verstehen lernen, warum die Krawatten bei SPON über ihre Kleidung und Sprache lachen. Woher die Abneigung gegen Bourdieu? Weil er unangenehme Wahrheiten ausspricht? Es geht doch um Chancengleichheit als Ziel, dachte ich.

Das Humboldtsche Bildungsideal, von dem ich spreche, will DEM Menschen (nicht einer Elite) ein umfangreiches Wissen über sich selbst und über die Welt vermitteln, damit er sich selbst und seine Rolle in der Welt möglichst realistisch begreifen kann, und nicht der BILDZEITUNG, der INSM, der NPD oder anderen Mythologen auf den Leim geht. Ich möchte an dieser Stelle auch Vernor Munoz von der UN zitieren, der das deutsche Bildungssystem gerade untersuchte: "Education is not an economic good".

Er kann das auch gut begründen: http://www.ohchr.org/english
/press/docs/education.doc

Man müsste den Markt ja auch erst einmal dazu bringen und zwingen, glückliche gebildete ausgeglichene Menschen als erstes Ziel, und nicht als nachgeordnetes eventuelles Nebenprodukt zu begreifen. Der Markt könnte ja bisher gut damit leben, dass massenweise Leute sich NICHT selbst verwirklichen dürfen, sondern am Fließband stehen, mittags die Bild und schlechtes Essen goutieren und abends RTL 2 und Schnaps, und mit 55 dann an Krebs sterben. Solange diese Leute eben nur keinen Unsinn in der Hauptschule machten. Das ist doch der Skandal. Was forderst du da selbst für dein Leben, dass du da anderen nicht zugestehen willst, an Bildung, Kultur, Zivilisation? War/ist deine eigene Ausbildung nicht noch sehr an Humboldt orientiert?

Auch in der abfälligen Sicht auf "Kunstlehrer" kann ich dir nicht folgen, ich halte es überhaupt nicht für sinnlos, jungen Menschen eine ästhetisch-sinnliche Perspektive auf die Welt, jenseits der üblichen utilitaristisch-rationalen, zu vermitteln. Nicht ohne Grund hat ja z.B. ein Kant sich gerade darüber auch ausführliche Gedanken gemacht. Solche "Soft Skills" werden sogar in der Wirtschaft immer wichtiger. Es ist keine mutige Tat, über Kunstlehrer zu lachen, die von sinnlicher Erfahrung sprechen, man hat die Mehrheit der Schenkelklopfer sicher gleich auf seiner Seite.

Deinen Ausführungen zur Kuschelpädagogik kann ich aber uneingeschränkt zustimmen. Es ist ein hohler Popanz, der da aufgebaut wird. Ich würde gerne mal Statistiken darüber sehen, was aus den kindern geworden ist, die TATSÄCHLICH antiautoritär und liebral erzogen wurden. Aus meinem eigenen Bekanntenkreis kann ich nur sagen, dass es ihnen nicht geschadet hat, im Gegenteil. Die prügelnden Hauptschüler dagegen haben meist zuvor selbst ordentlich Prügel (oder wie man heute sagt: Grenzen) zu schmecjen bekommen, das alles ist ja schon lange untersucht.

 
At 03 April, 2006 15:44, Anonymous Anonym said...

Es würde schon reichen, wenn Schule wieder den Auftrag erfüllen würde, die Schüler auf das Leben vorzubereiten, anstatt sich auf die Funktionen Selektionsmaschinierie und Wiederkäuer-Lernen zu beschränken. Gleichzeitig müßte abgeklärt werden, ob man die Familien stärken will oder zwangsläufig an Erziehungsaufgaben der Schule festhalten muss, wenn wegen Lohndumping weiter beide Elternteile arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen - nicht jeder verdient wie Ackermann oder Schröder.

MfG

Daniel

 
At 03 April, 2006 16:45, Blogger John Dean said...

@Anonym

"Warum das abfällige Urteil über Bourdieu?"

Ich urteile garnicht über Bordieu, sondern darüber, ob er und seine Theorien in die Hauptschule gehört. Die Frage ist nicht beantwortet:

Wozu?

Bourdieus Ansichten zu Habitus und Distinktion schätze ich sogar, aber die Frage bleibt: Wie sinnvoll, vorrangig und realistisch ist es, damit Hauptschüler zu "beglücken"?

Wie man überhaupt eine solche Idee verfallen kann, ist mit unklar. Es gibt jede Menge anderer Themen für die Hauptschule.

Im Übrigen hast du mich nicht verstanden, z.B. was meinen Passus zu Kunstlehrerm angeht. Und dabei denke ich manchmal sogar, dass ich mich klar ausdrücke.

So täusche ich mich wohl.

Also: Ich habe nichts gegen Kunst, Kunst in der Hauptschule oder Kunstlehrer an der Hauptschule. Ich habe lediglich in Sachen "Werkkunde" bzw. bei der Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten enorm etwas gegen den typischen Habitus (Bourdieu!) eines Kunstlehrers.

Mir geht es darum, dass die Hauptschüler im praktischen Bereich substantiell etwas lernen, so sehr, dass sie nach der Hauptschule "richtig was auf dem Kasten haben", und z.B. Möbel bauen können (wenn sowas Inhalt des gewählten praktischen Teils ist).

Übertrieben formuliert: Mit dem typischen Habitus eines Kunstlehrers kannst du keine echten Fertigkeiten vermitteln, jedenfalls nicht im Bereich handwerklicher Tätigkeit.

Das schließt Ausnahmen nicht aus.

Ich wollte nur klar machen, was ich sinnlos fände, nämlich eine Art stellvertretendes "Lernen", bei dem die Hauptschüler nur beschäftigt werden, so, wie es im Kunstunterricht m.E. typischerweise eben der Fall ist.

Im Gestus "freier Beschäftigung" (statt: freier Entfaltung) wird also die echte Vermittlung und Schulung von Fertigkeiten eher vermieden denn betrieben!

Nun klarer, was ich meinte, als ich meine Bedenken in die Worte zu formulieren wagte: "(...) nach dem Vorbild bekloppter Kunstlehrer, keine sinnlichen Erfahrungen mit Werkstoffen als Selbstzweck (...)".

Damit habe ich nicht gemeint, was du verstanden hast, dass ich alle Kunstlehrer für bekloppt halte. Darum ging es nicht.

Es ging explizit nur um bekloppte Kunstlehrer, welche sich in dem Gefühl suhlen, "sinnliche Erfahrungen" im Umgang mit Werkstoffen vermittelt zu haben, anstelle echter Befähigungen.

Nun klar?

Denn hier, in dem Bereich praktischer Befähigungen sehe ich einen Ansatz, damit Hauptschüler mit einem spürbaren Vorteil aus der Hauptschule kommen - zudem ihnen selbst von großen Nutzen, und dabei, in den vier knappen Jahren einen Vorsprung beim Finden eines Ausbildungsplatzes zu erhalten.

 
At 03 April, 2006 17:05, Anonymous Anonym said...

Vielleicht missverstehen wir uns auch bzgl. Bourdieu und Kunstlehrern -

Bourdieu für den realistischen blick auf die eigene Position in dieser gesellschaft und den Blick anderer auf einen selbst - als ein weiteres Thema - nicht als einziges oder massgebliches. Aber ich möchte wetten, dass es sowas nicht gibt, weil es ja keine "üraktischen" Fähigkeiten vermittelt, und das hat auch den Grund, um es mal sehr böse auszudrücken, dass die Hauptschüler eben nicht ZUVIEL wissen sollen, sie sollen nicht diskutieren oder protestieren, sondern affirmieren und arbeiten. Im Gegensatz zu Akademikern. Behaupte ich einfach mal. Und finde das skandalös.

Bei den Kunstlehrern weiss ich garnicht mal, ob wir da soweit auseinanderliegen - zur Holzbearbeitung ist einerseits ein anwendungsbezogenes fachliches Wissen über Holzbearbeitung sicher notwendig und wünschenswert, nur ist Kunst eben noch mehr. und es ist eben durchaus nicht nur Esoterik, wenn man dann auch auf die materielle Qualität und sinnliche Anmutung von Holz zu sprechen kommt, darauf wie es entsteht und wächst, wie es lebt und arbeitet, wie es sinnlich wirkt, sich anfühlt... Jeder meisterhafte Handwerker weiß davon zu erzählen. Davon also sprach ich. Dass das eine wie das andere an hauptschulen wohl eher Mangelware ist und eine geistlose Beschäftigungstherapie durch gelangweilte Kunstpädogikabsolventen überwiegt, sollte eher Anlass dafür sein, solche Forderungen noch lauter zu stellen.

 
At 03 April, 2006 20:07, Anonymous Anonym said...

@Dean

Weil ich sonst immer motze: Hier sagst du viel Sinnvolles und Unterstützenswertes!

 

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