12 April 2006

Kant, Kapitalismus und die Umkehrung der Menschenwürde

Esther weist auf Verarmungstendenzen in den Vereinigten Staaten hin und schreibt in ihrem Kaffeehausblog über Gefahren einer einseitig auf Marktprinzipien orientierten Gesellschaft. Zunächst beginnt sie mit einem Hayek-Zitat:
"Es soll freimütig zugegeben werden, dass die Marktordnung keinen engen Zusammenhang zwischen subjektivem Verdienst oder individuellen Bedürfnissen und Belohnung zustande bringt."
Dort, wo leistungslose Einkommen die Einkommen aus Leistungen übertreffen, kann die wirtschaftsliberale Vermutung nicht bestätigt werden, dass sich im ungeregelten Kapitalismus ein enger Zusammenhang zwischen individueller Leistung und Einkommen ergibt. Esther warnt:
"Wenn wir alle Lebensbereiche schrankenlos auf Marktprinzipien ausrichten, hat das letztlich die Verkehrung der Kantischen Formel zur Folge, so dass Kapitalverwertung eine Würde hat und Menschen (auf dem Arbeitsmarkt, Partnermarkt, etc.) einen Preis haben."
Anders gesagt, die Zivilisierung des Kapitalismus ist eine gesellschaftliche Daueraufgabe. Esther zieht das Fazit:
"Der Kapitalismus ist unglaublich effizient, aber er [ist mit dem] nicht hinnehmbaren Kollateralschaden [verbunden], dass diejenigen, die nicht mithalten können oder wollen, unter die Räder kommen."

7 Comments:

At 12 April, 2006 23:49, Anonymous Anonym said...

Zuerst hatte ich nur das rote Zitat gesehen, gedacht, das komme mir doch bekannt vor, und überlegt, ob ich ihm zustimmen kann. Erst dann sah ich, dass es sich um ein Zitat von mir handelt :-). Danke!

Ich finde spannend, dass Hayek im Gegensatz zu den heutigen VulgärhayekianerInnen nie behauptet hat, dass es einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Leistungsgerechtigkeit gibt. Dass er das freimütig zugibt, rechne ich ihm hoch an. Und ich stimme ihm sogar zu, dass wir nicht zu strikt auf bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen beharren sollten. Die individuelle Freiheit ist wichtiger. Jedoch bin ich der Meinung, dass Hayeks Markttotalitarismus gerade nicht zu mehr allgemeiner Freiheit führt, sondern zu allgemeiner Unterordnung unter die Regeln der Kapitalverwertung.

 
At 13 April, 2006 00:54, Anonymous Anonym said...

Nun, es ist ja immerhin schon ein Fortschritt, daß man den Kapitalismus nicht mehr ganz abschaffen will, wie dies vielleicht noch vor 100 Jahren der Fall war. Nach sämtlichen kläglich gescheiterten Versuchen in diese Richtung, mit Millionen von Toten und Massenverelendung breiter Bevölkerungsschichten, scheint man dazugelernt zu haben.

Man gibt immerhin freimütig zu, daß der K. "wenigstens" unglaublich effizient sei. Immerhin ein Fortschritt.

Trotzdem ist der kleine Sozialist, der ja irgendwie in uns allen steckt, bei vielen nicht ganz tot zu kriegen, worauf man reflexartig darauf hinweist, daß der K. ja unbedingt "zivilisiert" werden müsse. Ob nach diesen "Zivilisierungsversuchen"die, glaubt man Hayek und Co., irgendwann in Staatsbankrott und Zusammenbruch enden müssen, nochmals dazulernt? Man kann es nur hoffen.

@Esther

Daß man freimütig zugibt, daß der Kapitalismus keine Gerechtigkeit für jedermann garantieren kann, diese Meinung wirst du nicht nur bei Hayek finden.

Irgendwelche Heilsversprechen ala "Klassenlose Gesellschaft" und "Jeder nach seinen Bedürfnissen" oder "Gerechtigkeit für alle" abzugeben muss man schon sozialistischen Gesellschaftskonstrukteuren überlassen.

 
At 13 April, 2006 02:03, Anonymous Anonym said...

@esther: Die individuelle Freiheit ist wichtiger als bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen?? Sollte man nicht sagen: die individuelle Freiheit hat ihre Grenzen bei bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen? Bist Du wirklich der Meinung, dass individuelle Freiheit, die absolut gesetzt immer die Freiheit der Stärkeren auf Kosten der Schwächeren ist, das höchste Gut ist?

 
At 14 April, 2006 23:25, Blogger John Dean said...

@Esther
Wenn du dich bei mir für die Zitierung bedankst, dann treibt mir das wiederum die Schamesröte ins Gesicht.

Was die vulgären Kapitalismusanbeter völlig verkennen, ist beispielsweise, dass im Kapitalismus das Verfügen über Eigentum ungerecht verteilt ist und auch massive Ungerechtigkeiten auslösen kann. Wenn ich sehe, wie sich heute in Deutschland Studierende aus den unteren sozialen Klassen schwer tun, wenn man sieht, wie individuelle Freiheiten tatsächlich durch Wirtschaftsmächtige bedroht werden, dann wundert es mich, dass all dies von den Vulgären verkannt und bestritten wird.

Mittlerweile geht man dort so weit, dass man den Marktprozess (egal, wie dieser organisiert ist?) zum Absoluten erklärt, und Demokratie zur Bedrohung (z.B. Grotzinger vom Kapitalismus-Magazin).

Und Heerscharen von BWL- und VWL-Studies laufen diesem Bockpfeifentgetöse hinterher, viele so, als ob immer noch der ideologische Kampf gegen den Kommunismus zu führen wäre.

@matthias b.
Ich bin mir nicht so sicher bei dir, ob dir klar ist, womit du es mit Ordoliberalen zu tun hast. Unsere Kapitalismuskritik zielt im Kern nicht auf die Abschaffung von Märkten, sondern auf die Schaffung und Bewahrung menschlicher Freiheiten in Verbindung mit einer sozialstaatlichen Form von Leistungswettbewerb.

Und dies spätestens seit Oppenheimer (das war bereits Anfang der 20er Jahre).

Es ist nicht immer ganz leicht, dabei die optimale Balance zu finden, aber im Vergleich zu Amerika halte ich unsere Gesellschaft nicht unbedingt für "gescheitert". Im Gegenteil: Für die meisten lebt es sich ganz gut bei uns (oder in der Schweiz oder Österreich), und dieser Anteil ist höher (!) als in rein neoliberal strukturierten Ökonomien.

@Eule70
Ich glaube, so hat das Esther auch nicht gemeint. Es geht mehr um eine Abwägung, also um die Suche nach einem Optimum aus individueller Freiheit (wichtig) und gesellschaftlicher Gerechtigkeit.

Eine überbordende gesellschaftliche Gerechtigkeit (sorry für die Formulierung!) gibt sich im Regelfall sehr etatistisch oder hoch bürokratisch, und begrenzt auf diesem Weg Individualfreiheiten.

Dieser Gefahr sollte man sich, egal wie edel die verfolgten Ziele sind, immer bewusst sein, und Esther wie auch ich gehören bestimmt nicht zu den Leuten, welche einer Wolfsökonomie bzw. dem Vorrecht der Stärkeren das Wort geben.

Ich glaube, heutzutage nennt man uns Linksliberalen eher "Sozialisten". Was eigentlich sehr ulkig ist, weil wir Kollektivideologien gegenüber sehr skeptisch sind.

Wie auch immer, man kann das Streben nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit (natürlich nicht in Optimalform) mit individueller Freiheit (auch hier nicht völlig unbeschränkt) gut miteinander vereinbaren.

Das können weder Kollektivideologien, noch der Anarchokapitalismus (auch nicht in seiner Wirtschafts"liberalen" Verfassung) bewerkstelligen.

 
At 18 April, 2006 01:49, Anonymous Anonym said...

Die Formulierung: "es ist ja immerhin schon ein Fortschritt, daß man den Kapitalismus nicht mehr ganz abschaffen will" erscheint für mich sehr befremdlich.
Abgeleitet aus der Tatsache, das durch den Versuch der Abschaffung des Kapitalismus große Ungerechtigkeit und Leid geschaffen wurde ist sie für mich verbrecherisch. Auf dem Begriff 'Fortschritt' brauche ich nicht extra herumzureiten.

Der existierende Kapitalismus schafft Leid, genauso wie eine Änderung des Wirtschaftssystems eine Menge Leid und Schmerzen verursachen würde. Dabei ist es völlig EGAL in welche Richtung. Hier Opfer von Kapitalistischen Auswüchsen mit Opfern gescheiterter Wirtschaftssysteme aufzuwiegeln ist zutiefst unmenschlich. Leid wird nicht durch irgendeine mysteriöse Form von 'Gegenleid' aufgewogen. Real existierende Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten bedürfen einer Korrektur, denn sonst korregieren sie sich von selbst. Diese Selbstkorrektur bedeutet das größte nur vorstellbare Leiden für unsere Industriewelt und die von uns abhängigen 'Zweit-, Dritt- und Viertwelten' und trägt den vorläufigen Arbeitstitel '3. Weltkrieg'.

Kapitalismus an sich ist kein 'Wert' sonder nur eine Bezeichnung für eine Art des Wirtschaftens. Es gibt keinen Grund für irgendwelche Sentimentalitäten warum man diese Art einer gerechteren Art der Wirtschaftsverteilung bevorzugen sollte.

Meinetwegen darf eine globale und gerechte Weltwirtschaft gerne Kapitalismus heissen, weil sich manche Leute nicht mit einem neuen Wort anfreunden wollen. Da habe ich echt absolut nichts dagegen. Es kommt mir nicht auf den Namen sondern auf den Inhalt an.

Schau Dir an, warum man vor 'ca 100 Jahren' (1929 Weltwirtschaftskrise) auf einmal den Kapitalismus abschaffen wollte. So etwas passiert nicht weil irgendwer dazu Bock hat, sondern weil sich gezeigt hat das der Kapitalismus fehlerhaft ist. Genauso fehlerhaft wie der Kommunismus und jedes andere mir bekannte von Menschen verwirklichte System zur Verteilung von Gütern.

Und nein, das ist kein Grund aufzuhören über einem funktionierenden System nachzudenken und darauf zu drängen die bekannten Fehler des Kapitalismus zu beseitigen.

 
At 22 Januar, 2009 10:52, Blogger Franz said...

Sehr geehrter Leser,

Zurzeit befasse ich mich mit der interessanten Auffassung von Bodo Wünsch, dass Kant gar kein Freiheitsdenker, sondern ein Freiheitszerstörer war. Viele Philosophen sind der Meinung, dass Kants Sozialordnung vollkommen auf die Freiheit ausgelegt war. D. h., jeder Mensch darf soviel besitzen, wie die anderen Eigentümer besitzen. Dieses Sozialökonomische gesetz bildet die Basis für Kants Sozialordnung. Dadurch entsteht ein Gleichgewicht. Die Eigentümer sind unabhängig und ohne Zwang, also frei. Sie dürfen tun und lassen, was sie wollen. Die einzigste Grenze ist der Eingriff in die Privatsphäre Anderer. Dies ist noch Heute die zentrale Maxime für jeden liberalen Menschen. Freiheit war für Kant der “Wille Gesetzen zu folgen, die sich die Vernunft selbst gegeben hat”. Was heißt das? Das heißt, dass ein Mensch frei ist, wenn er sich den sittlichen Gesetzen (dem kategorischen Imperativ oder dem “allgemeinen Wille”) unterworfen hat. Was für eine Freiheit ist das! Wir sind also “frei”, als Sklave von Kants Moralgesetzen zu leben. Meiner Meinung nach ist die Essenz von Kants Politik nicht die Freiheit des Handelns, sondern die Freiheit des Gehorchens.
Ein weiterer Kritikpunkt ist für mich die Tatsache, dass Kant die Freiheit mit dem Privatbesitz eines jeden Bürgers gleichsetzt. Jeder Bürger muss für sich selber sorgen und darf nicht von den anderen abhängig sein. Wenn er kein Privateigentum besitz und sich selbst nicht ernähren kann ist der Mensch für Kant nicht frei. Da stellt sich nun mir die Frage, ob der Wert des Menschen nur an seinem Besitz beurteilt wird oder ob man auch ohne diesen vom Rechtsstaat Schutz bekommt und als freier Mensch wahrgenommen wird. War Kant ein Freiheitszerstörer?

 
At 01 Juni, 2011 16:27, Anonymous Viagra Free Samples said...

Gerechtigkeitsvorstellungen beharren sollten. Die individuelle Freiheit ist wichtiger. Jedoch bin ich der Meinung, dass Hayeks Markttotalitarismus gerade nicht zu mehr allgemeiner Freiheit führt, sondern zu allgemeiner Unterordnung unter die Regeln der Kapitalverwertung.

 

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