31 März 2008

Das hier fühlt sich beim Lesen fast so an, als ob im SpOn die Revolution endgültig ausgebrochen sei:
Flughäfen sind komplexe Systeme, die dem Allgemeinwohl dienen sollten und nicht den Profiterwartungen von ein paar Aktionären. Genau diese Weichenstellung ist im Großbritannien Margret Thatchers mit seinen wahnhaften Privatisierungen falsch justiert worden. Über Jahrzehnte hat sie zu Auswüchsen geführt, die nur noch als bizarr beschrieben werden können.
So frank, frei und zensurfrei schreibt Thomas Hüetlin aus London. In unmittelbarer Umgebung klagt Alexander Neubacher über die selbstgerechte Untätigkeit von Ärtztefunktionären. Ich kann noch garnicht glauben, dass ich das da eben gelesen habe.

28 März 2008

Boah! Ich bin immer wieder erneut erstaunt und begeistert, wenn es jemand schafft, wie hier Julia Friedrichs im Interview, komplexe Sachverhalte in einfachen und eleganten Worten darzustellen. Ich liebe diesen Umgang mit Sprache. Für sowas verlinke ich sogar SpOn.

27 März 2008

Irak: "The surge" ist kein Erfolg

Die Lage im Irak ist weiterhin schlecht. Es gibt Schwankungen in der Anschlaghäufigkeit, inzwischen sogar einen deutlich feststellbaren Rückgang im Einjahresvergleich - das Lebensgefühl der Iraker ist weiterhin stark von Unsicherheit und schwierigen Lebensumständen geprägt.

Anfang 2007 war die Lage ganz besonders übel (siehe Umfrage - PDF) und hat sich seit Mitte 2007, gemessen am Gewaltnivau, verbessert (Quelle). Die Zahl der Verwundungen amerikanischer Soldaten sinkt (Quelle), die monatliche Zahl getöteter amerikanischer Soldaten und Söldner fällt sogar stark. Dieser Rückgang übertrifft allerdings den allgemeinen Rückgang des Terrors, was auch damit zu tun hat, dass sich die US-Truppen innerhalb des Landes immer weiter zurückziehen (Beispiel: in Basra herrschen inzwischen die Milizen von Al-Sadr).

Das Gewaltniveau im Irak befindet sich etwa auf der Höhe des Jahres 2005. Das lässt sich als Erfolg werten, im Vergleich zur Lage Anfang des Jahres 2007, oder als Misserfolg, deshalb, weil die Lebensbedingungen der Iraker immer noch erbärmlich schlecht sind.

Beispielsweise sind Strom, sauberes Wasser, medizinische Notfallversorgung, Schulbildung für die Bevölkerung schlecht zugänglich, deutlich schlechter als zur den Zeiten des Diktators Saddam Hussein. Die Herrschaft wird zunehmend von lokalen Milizen ausgeübt, es gibt eine Art "Somalisierung" der Verhältnisse.

Vor diesen Hintergrund ist es eine glatte Lüge, wenn man behauptet, dass "the surge" funktioniert.

Eine andere Frage - und zwar fernab von der Propaganda der Bush-Administration - ist, was in dieser Lage zu tun sei. Darauf habe ich nur wenig Antworten. Ich denke, für Amerika wäre ein geordneter Rückzug, schon allein aus Kostengründen, erwägenswert - und dies erst recht, wenn man die irakische Bevölkerung zuvor darüber abstimmen lässt. Das damit eingesparte Geld könnte zum Teil zur finanziellen Unterstützung einer halbwegs demokratischen irakischen Zentralgewalt eingesetzt werden.

Vermutlich ist das deutlich effizienter als der weitere Einsatz des amerikanischen Militärs, bei dem ca. 15 bis 20 Prozent der Soldaten meinen, man dürfe jeden beliebigen Zivilisten wie einen "Aufständischen" behandeln. Mindestens jeder zehnte amerikanische Soldat hat (nach eigenen Auskünften! - PDF-Quelle) Verbrechen an der irakischen Zivilbevölkerung vollzogen. Anders gesagt: Innerhalb des US-Militärs im Irak dienen tausende von Kriegsverbrechern.

Es gibt hunderttausende guter Gründe dafür, warum die US-Soldaten von den Irakern gehasst bzw. abgelehnt werden. Auch nach dem "surge" des US-Militärs wünschen rund 70% der Iraker einen schnellen Rückzug der amerikanischen Soldaten (Quelle). Insofern gibt es keine gute Basis für eine fortdauernde militärische Besetzung des Iraks. Allerdings werden die USA bei einem Rückzug die Souveränität über den Irak verlieren und müssten mit einem Rückzug fast aller US-Firmen leben.

Ich glaube nicht, dass sie das wollen. Ich sehe weit und breit keinen US-Präsidenten, der dazu den Mut hätte. Eher finanzieren sie diesen Krieg noch hundert Jahre. McCain hat also Recht, aber aus ganz anderen Gründen als er meint - zuallerletzt aus Vernunftgründen.

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Wahlkampf: Clinton ruft zum totalen Delegiertenkrieg auf

Hillary Clinton hat heute Nacht angekündigt, dass sie die sogenannten "pledged delegates" von Obama als Basis zur eigenen Nominierung nutzen möchte. Diese Ankündigung ist problematisch, denn eigentlich sind diese Wahlmännerstimmen fest einem Kandidaten zugeordnet und sollen das Wählervotum des Vorwahlkampfes der Demokraten repräsentieren. Macht sie ihre Ankündigung wahr, dann stände die demokratische Partei schnell vor einem Trümmerhaufen.

Die Clinton-Kampagne in der Zwickmühle

Da Hillary Clintons Vorsprung bei den sogenannten Superdelegierten inzwischen auf ca. 35 Stimmen (Quelle) schrumpfte, während Barack Obama, bedingt durch seine Wahlsiege, einen deutlichen Vorsprung (ca. 155 Stimmen - Quelle) bei den "pledged delegates" errungen hat, liegt Hillary Clinton inzwischen im Vergleich zu Barack Obama im Hintertreffen, mit über 120 Nominierungsstimmen.

Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass ihr geplanter Wahlsieg in Pennsylvania knapper ausfallen könnte (ggf. nur 10% - Quelle) als geplant. Sie läge dann immer noch rund 100 Nominierungsstimmen hinter Obama - was eine Niederlage auf dem Nominierungsparteitag bedeuten würde. Dazu kommt, dass die verbleibenden Vorwahlstaaten sich eher zugunsten von Obama entscheiden werden.

Die Lage für das Clinton-Camp erweist sich somit als ernst, denn Obama erholt sich gerade gut vom letzten Kampagnen-Ass, das Clinton ausspielen konnte, nämlich die Attacken gegen seinen Pfarrer Wright. Es hat Obama nicht viel ausgemacht, er erwiderte mit einer sehr ernsthaften und sehr guten Rede. Inzwischen liegt er in USA-weiten Umfragen wieder vor Clinton, während ihr ihre Bosnienlüge zusetzt.

Clintons vorletzter Trumpf: Michigan und Florida

Eine Wiederholung der für ungültig erklärten Vorwahlen in Michigan und Florida wäre der vorletzte Trumpf von Hillary Clinton. Zur Zeit ist es so: Die demokratische Partei in Michigan unterstützt eine erneute, und dann gültige Vorwahl, nur droht dem Clinton-Camp hier sogar eine Niederlage. Deutlich günstiger wären ihre Aussichten in Florida, allerdings haben Offizielle der demokratischen Partei in Florida eine Wahlwiederholung ausgeschlossen (Quelle).

Im besten Fall kann Clinton jetzt darauf hoffen, dass keine erneute Vorwahl in Michigan stattfindet, während die Vorwahl in Florida nachträglich über ein Parteigericht als gültig erklärt wird und in der Stimmenzahl halbiert wird. Das brächte ihr rund 20 Delegiertenstimmen.

Mit 20 zusätzlichen Delegiertenstimmen käme sie nicht weit.

Clintons letzte Chance - das Drehen von Delegierten

I
hre einzige noch verbleibende Chance besteht in dieser schwierigen Lage darin, dass sie "pledged delegates", die Obama gewonnen hat, auf ihre Seite zieht. Die Kandidatin Hillary Clinton erklärte hierzu in den letzten Tagen mehrfach, dass diese Delegierten in keiner Weise gebunden seien - und es ihnen frei stehe, sich für Clinton zu entscheiden.
Every delegate with very few exceptions is free to make up his or her mind however they choose. (...) And also remember that pledged delegates in most states are not pledged.
Es dürfte kein Zufall sein, dass Clinton und die Sprecher ihrer Kampagne diese Ideen in letzter Zeit stark gehäuft formuliert haben.

Sie wollen erstens Durchhaltewillen signalisieren und ihre Unterstützer davon abhalten, trotz Obamas rechnerischen Vorsprung die Hoffnung auf einen Sieg zu verlieren. Zweitens legitimiert das Clinton-Lager damit den Kampf um Obamas Delegierte. Für Clintons innerparteilich zahlreiche Unterstützer ist es ein sehr deutliches Signal - sie werden sich von der Clinton-Kampagne aufgerufen fühlen, Obamas "pledged delegates" ins Visier zu nehmen.

Das ist nicht fair, aber nicht ungeschickt. Denn während das Obama-Lager auf Fairplay setzt, verschafft sich das Clinton-Lager hinter den Kulissen Vorteile in Form "gedrehter Delegierte", mit denen dann auf dem Nominierungsparteitag ein Überraschungssieg glücken könnte. Zugleich ist dies eine Form der Parteitaktik, mit die jungen Unterstützer von Obama entmutigt werden können.

Aber auch hier gilt für die Clintonkampagne: Der Schuss kann nach hinten losgehen. Die Sympathiewerte für Clinton stehen im Augenblick auf einem neuen Tiefpunkt. Ihr Ruf als ruchlose Machtpolitikerin wird ihr, falls sie mit diesen Tricks die Nominierung bei den Demokraten gewinnt, einen Wahlsieg gegenüber McCain sehr schwer machen. Die demokratische Partei befände sich in einem innerparteilichen Grabenkrieg - und wäre auf viele Jahre hin so gut wie erledigt.

Der Name Clinton steht dann in den Geschichtsbüchern als Beispiel für einen beeindruckenden, starken Selbstzerstörungswillen.

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26 März 2008

Irak: Was das Weiße Haus sehen möchte - und was nicht

"Das ist genau das, was wir sehen wollen!"
Die Reaktion aus dem Weißen Haus fallen überschwänglich aus. Worüber sind sie begeistert? Iraks Marionettenministerpräsident Maliki stellt den Al-Sadr-Milizen in Basra ein Ultimatum und binnen 72 Stunden sollen sie sich ergeben. Anderenfalls drohten "schwere Strafen".

Ich bin kein Irak-Experte, aber ich bezweifle, dass es hier Grund zur Freude gibt. Nach Augenzeugenberichten haben die Al-Sadr-Milizen die Kontrolle über Basra errungen und insofern zum Zeitpunkt des Ultimatums wenig Anlass, sich zu ergeben. Die US-Administration nimmt offenbar an, dass Malikis Ultimatum gute Erfolgschancen hat, und nicht, wie andere glauben, Ausdruck von Verzweiflung ist. Das Ultimatum entspricht der Vorstellungswelt der Bush-Administration und zeugt m.E. auch von Malikis folgsamen Verhältnis zur US-Botschaft im Irak. Einige Fragen dazu:
  1. Al-Sadr hat selbst große Probleme mit der Disziplin seiner Milizen. Warum sollten diese binnen 72 Stunden ausgerechnet auf Maliki hören?

  2. Da die Terroristen und Kämpfer der Al-Sadr-Milizen erst nach Ablauf des Ultimatums mit Strafen zu rechnen haben, waren sie dann vorher also straffrei? Und mit Ablauf des Ultimatums setzt Maliki schlagartig die Rechtsordnung seines - dank US-Hilfe - innerlich verfallenen Staates in Kraft?

  3. Verfügt Maliki über eine neue Wunderwaffe zur Terrorbekämpfung, die er beim Ablauf des Ultimatums zum Einsatz bringt? Ist es nicht kindisch zu glauben, dass Terroristen, die aus dem Verborgenen heraus operieren, ein derartiges Ultimatum ernst nehmen?

  4. Wenn es angeblich aussichtsreich ist, Terroristen ein Ultimatum zu stellen, warum haben andere Staaten in der Vergangenheit so wenig Gebrauch davon gemacht? Hätte man z.B. den RAF-Terror mit einem Ultimatum binnen 72 Stunden stoppen können? Oder den Terror in Irland?

  5. Wie geistesgestört sind die Irak-Spezialisten im Weißen Haus?
Sicherlich führt kaum ein Weg daran vorbei, dass die irakische Regierung selber für Ordnung im Land sorgen muss. Erleichtern würde dies u.a. ein beginnender Abzug der US-Truppen - und zwar nach einer Volksabstimmung der Iraker. Man könnte Malikis Ansage also dahingehend werten, dass nunmehr (nach wievielen Jahren?) ein ernster Wille zur Terrorbekämpfung besteht.

Allerdings wird ein derartig martialisches Auftreten, dem die eigenen Machtmittel fehlen, eher eine neue Provokation des Milizenterrors bewirken, ja, sogar eine Anfeuerung der Terroristen. Ich erwarte für die nächsten Tage im Irak ein weiteres Anschwellen der Terrorwelle. "Surge" - aber anders.

*** Update 04.04.2008 ***
Inzwischen ist das Ultimatum folgenlos verstrichen, wenn man mal davon absieht, dass sich Maliki und Al-Sadr wieder lieb haben und künftig wieder vereint gegen Sunniten im Irak kämpfen werden. Die Truppen von Maliki weigerten sich zumeist ohnehin, auf Milizen von Al-Sadr zu schießen. Und - das mag die USA sehr bekümmern - der Ausgleich zwischen Maliki und Al-Sadr wurde vom Iran vermittelt. Die Kompetenz der Irak-Spezialisten im Weißen Haus war kaum fühlbar als sie geistesentrückt jubelten und verlautbarten: "Das ist genau das, was wir sehen wollen."

Ich glaube nicht, dass ihnen diese aktuellen Entwicklungen gefallen, welche die regionale Macht des Iran gestärkt haben. Die USA stehen im Irak auf verlorenen Posten. Der Irak wird sich mutmaßlich stabilisieren, aber das wird am Ende kein Sieg für die USA sein, sondern eine Stärkung des Iran. Vielleicht wäre es für die Militärplaner im Weißen Haus ratsam, sich schon jetzt auf die Realitäten in dieser Region einzustellen - und den Rückzug zu planen.

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25 März 2008

Ha Ha Ha - Oswald Metzger zur CDU

Das hat mir das Lesen der Morgennachrichten versüsst, herzlich musste ich darüber lachen: Olle Oswald, unser allbeliebter Neoliberalisierer, ist in die CDU eingetreten. Im neuen Parteihafen wird er den Lebenssinn (über den er bei anderen Menschen gerne urteilt) neu ausrichten müssen. Denn ein Mandat bekommt er in der Biberacher CDU sicher nicht.
Ich sehe die CDU als parteipolitische Plattform (...) [mit] einen viel größeren Resonanzraum.
Einem Mann wie Oswald M. geht es stets um Dissonanzen. Tja, und das wollen die da nicht. Maul halten in Sachen Parteipolitik: Das wird seine künftige Aufgabe sein.

24 März 2008

Karl-Heinz Ohlig ist ein miserabler Islamwissenschaftler

(anlässlich eines Interviews, das von Telepolis veröffentlicht wurde)

Die Wissenschaftsfreiheit an den Universitäten bringt es mit sich, dass hier auch Leute lehren und forschen, bei denen der einzige Antrieb in der Diskreditierung konkurrierender Religionen besteht. Einer dieser Fälle ist der aufschneiderische Pseudowissenschaftler Karl-Heinz Ohlig.

Das Problem besteht nicht darin, dass jemand einen abweichenden oder sogar abseitigen Standpunkt bestmöglich zu verfechten versucht, sondern es besteht darin, dass Karl-Heinz Ohlig so sehr von seiner Ideologie getrieben ist, dass er als "Wissenschaftler" alle Erkenntnise, die seinem Spin- und Darstellungsinteresse entgegen stehen, ignoriert.

Kaum jemand beschmutzt den Begriff einer "historisch-kritischen" Herangehensweise stärker als Karl-Heinz Ohlig, dem nämlich die Kritikfähigkeit abgeht. Deshalb weiß er nichts von den Überlieferungen des Ibn Ishaq und auch nichts von der Frühgeschichte der ersten muslimischen Kalifen.

Würde er etwas davon wissen, so würde seine eitle nichtsnutzige Argumentation zusammenbrechen. Er würde dies - trotz seiner Verbohrtheit - sogar selbst erkennen. Da er aber kein Wissenschaftler ist, und falls doch, dann als üblere Variante, so behauptet er z.B:
Telepolisfrage: Nach ihren Erläuterungen bleibt nur ein Schluss, dass Mohammed als historische Figur, wie sie heute bekannt ist, nicht existierte. Und er wurde erst im 9. und 10. Jahrhundert zu dem, was er ist?
Ohlig-Antwort: Es ist durchaus möglich – wenn auch bisher nicht historisch erweisbar -, dass es am Anfang oder auch an einer anderen Stelle in der Geschichte der koranischen Bewegung einen wichtigen Prediger gegeben hat. (...)
Mit anderen Worten, Ohlig behauptet, dass die Person Mohammed erst im 9. und 10. Jahrhundert wirklich entstand, und zwar durch eine Form der nachträglichen Geschichtsschreibung. Diese Deutung scheitert aber daran, dass allerhand Zeitgenossen von Mohammed als reale historische Personen nachweisbar sind (Aischa beispielsweise als Heeresführerin).

Wie kann Ibn Ishaq ca. im Jahr 750 mit einer Mohammedbiografie beginnen (und dabei auf Erzähltraditionen aus dem 7. Jahrhundert zurückgreifen), wenn dieser Mohammed - gemäß den "Forschungen" des Pseudowissenschaftlers Ohlig erst im 9. und 10. Jahrhundert als Erzählung aufgetaucht sei? Zu Ohligs Irrtum passt auch dieses Interviewzitat:
Wahrscheinlich konnte man erst ein Leben Mohammeds und weitere Abläufe beschreiben, nachdem sich diese Vorstellungen über die Anfänge herausgebildet hatten, ansatzweise nicht vor der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts (...)
Was für ein kenntnisarmes Gefasel! Abgesehen von den Erzähltraditionen, auf die Ibn Ishaq zurückgreift (die deutlich mehr als "ansatzweise" ausfallen und vor der "zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts" liegen), gibt es eine Reihe von recht zuverlässigen Hadithen, die das Leben Mohammeds beschreiben, welche aus dem 7. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts stammen.

Die Kernthese von Ohlig ist somit unrettbar falsifiziert.

Ohlig behauptet, dass der Islam und die Geschichte von Mohammed im Wesentlichen eine Erfindung des 9. und 10. Jahrhunderts gewesen sei. In dieser Zeit hätte es dann eine kurze Blüte von Medizin und Wissenschaften gegeben, zusammen mit einer "Spätblüte" in Spanien.

Damit verkennt Ohlig die kulturelle Vielfalt im Islam, die es schon vor dem 9. Jahrhundert gab, zum Beispiel die wissenschaftsfördernde Herrschaft von Harun al Raschid. Die Forschungen des islamischen Mediziners Rasis sind zum Beispiel nicht ohne die islaminduzeirten Vorarbeiten im 8. und 7. Jahrhundert denkbar gewesen, durch die beflissene Wissenssammelei im Frühislam (den es lt. Ohlig garnicht gäbe). Zwischen ca. 810 bis 835 forschte Al-Chwarizmi in Bagdad, danach Al-Kindi. Bereits ca. im Jahr 850 ist in der Welt des Islam alles (!) an griechischen Schriften ins Arabische übersetzt gewesen, was nur irgendwie verfügbar war. Mitte des 8. Jahrhunderts wirkte der islamische Philologe Khalil ibn Ahmad. Der Philosoph Hasan al-Basri schuf bereits im 7. Jahrhundert Grundlagen für den rationalen Islam der Mu´tazila (wenn man so will - eine Art persischen "Euroislam"). All dies zu einem Zeitpunkt, wo es lt. Ohlig noch nicht einmal Ansätze für einen Islam gegeben hätte, geschweige denn eine kulturelle Blüte...

Karl-Heinz Ohlig ist als Wissenschaftler ein Versager ersten Ranges.
In diesem Sinne ein erstrangiger Islamwissenschaftler...

Tilman Nagel hat KH Ohligs "Forschungsansatz" ebenfalls unfreundlich zerrissen. Auszug:
Die „neue, kritische Islamwissenschaft“ bemüht sich um eine Antwort auf Fragen, die der Historiker an die Quellen über das Leben Mohammeds zu richten hat; aber ihre Antwort besteht darin, dass sie den Forschungsgegenstand eliminiert.

20 März 2008

Thema Staatsquote: Nimmt man bei der gegenwärtigen deutschen Staatsquote (43,9 Prozent im Jahr 2007) (PDF-Quelle) an, dass davon rund 3,5 Prozent auf das Konto der Wiedervereinigung gehen, so beträgt die zu vergleichende Staatsquote 40,4 Prozent. Das enspricht annäherungsweise dem Niveau von 1966 (37,3 Prozent), dem letzten Jahr, wo Ludwig Erhardt Kanzler war.

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Der Tanz des untoten Terroristen

Bin Ladin "hat Rache für die Mohammed-Karikaturen angekündigt". Diese Pseudomeldung wird gerade durch die Medien geprügelt. BL ist tot (Benazir Bhutto sprach von Ermordung) bzw. recht wahrscheinlich tod und doch, unsterblich. Denn es folgt den Gesetzen der Aufmerksamkeits- ökonomie, ihn ewig leben zu lassen. Und meine tote Oma möchte gerne mit Tonfälschern Tango tanzen.

(Einfach ist es, tote Terroristen mit "Tondokumenten" in Untote zu verwandeln.)

Aber - immerhin - lässt sich bei den Pressemeldungen teils Vorsicht feststellen. SPIEGEL schreibt: "Angeblich ist der Terroranführer selbst darauf zu hören." , STERN meldet: "Die Authentizität der Aufnahme wird noch geprüft.", Springers WELT bejubelt vorbehaltlos den angeblichen Nachrichtenwert, meldet aber die Quelle: "von der das auf die Beobachtung islamistischer Websites spezialisierte US-Institut SITE". Das ZDF erweist erneut, dass es Gebührengelder ohne Verstand verschleudert, während SPREERAUSCHEN der Sprachregelung von STERN folgt und die Prekariatsjournalistin Ursula Pidun einen unangemessen ausführlichen Hintergrundartikel verfassen lässt. Der Rest der Medien spielt derweil Copycat und verbreitet ungeprüft den Meldungsdreck des SITE Instituts.

Schaut man sich die Nachrichtenquelle genauer an, das sagenhafte "SITE Institute" (z.B. via Sourcewatch), dann verläuft eine enge Verbindung (über die Institutsleiterin Rita Katz zu ihrem Mentor Steven Emerson) hin zu rechtsgerichtenten Think Tanks, welche ein ausgesprochen taktisches Verhältnis zur Wahrheit pflegen, besonders die "Scaife Foundations" und die "Lynde and Harry Bradley Foundation".

Mit anderen Worten, mit dem Geld rechtsextremistischer Organisationen wird die Platzierung von "Nachrichten" finanziert. So funktioniert Medienbeeinflussung.

17 März 2008

Parteien Senso

16 März 2008

Leseempfehlung: Johann Braun - Einführung in die Rechtsphilosophie. Der Gedanke des Rechts.

Man lasse sich vom dröge wirkenden Titel des Buches nicht täuschen: Johann Brauns "Einführung in die Rechtsphilosophie. Der Gedanke des Rechts" ist eines der sensationellsten Bücher dieses Jahrzehnts. Sehr tief, sehr klar, sehr anregend - zudem ein stilistisches Meisterwerk und unterhaltsam. ISBN 3161489829.

12 März 2008

Der Seeheimer Kreis, die LINKEN und die Zukunft der Sozialdemokratie

Zu den verlogeneren Erscheinungen moderner Parteipolitik kann man den konservativen "Seeheimer Kreis" zählen, der sich intern als "die anständigen Sozialdemokraten" inszeniert, und so gut wie jedem anders gesinnten Sozialdemokraten in den Rücken fällt. Das ist im Zusammenhang mit der Frage, wie Sozialdemokraten künftig mit der LINKEN umgehen sollen, doppelt interessant, deshalb, weil die parteiinterne Macht des "Seeheimer Kreises"ein wichtiger Grund dafür ist, dass die LINKE im Westen aufblüht.

Wenn inzwischen beinahe zwei Drittel aller SPD-Bundestagsabgeordneten sich die Zukunft der Sozialdemokratie als eine Art "CDU light" vorstellen (Seeheimer Kreis) oder als "Vorhut der moderaten Neoliberalisierung" (Netzwerker), dann beantwortet das die Frage, warum viele Bürger auf der Suche nach einer sozialdemokratischen Partei bei den LINKEN landen.

Will die SPD eine Zukunft haben, die mehr ist, als eine verblassende Erinnerung an die Sozialdemokratie und soziale Demokratie, so muss sie sich erneuern. Zu tun gibt es genug.

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08 März 2008

Wundersamer Westerwelle

Weil ihm Merkel nicht mehr neoliberal genug ist und ihm somit zunehmend ungeeignet erscheint, für das gemeinsame Projekt zur Verminderung des Sozialstaats, ändert Westerwelle seine Bündnispolitik und erklärt gegenüber Steinmeier Abbitte. "Mea Culpa!"

Einen guten Hintergrundartikel zu den Vorgängen in Hessen schrieb Marina Küchen. Hier wird auch erklärt, warum Ypsilanti vorschnell auf die Unterstützung durch alle Kräfte in ihrer Fraktion setzte: Dagmar Metzger genehmigte sich ein paar Extratage Urlaub, während die Fraktion einen einstimmigen Beschluss fasste. In der Welt der realen Politik ist es aber ein recht seltener Fall, dass ein Abgeordneter eine Fraktionssitzung schwänzt - und hinterher den dort gefassten Beschluss nicht mitträgt. Die Ausflucht von Frau Metzger, sie hätte ja nicht wissen können, dass in einer Fraktionssitzung direkt nach der Hessenwahl wichtige Themen zur Sprache kämen, lässt ihre "Ehrlichkeit" und darüber hinaus - ihre Eignung als Abgeordnete fraglich erscheinen.

04 März 2008

Blick in meine Kristallkugel

Texas: + 4 % Clinton (allerdings Delegiertenstimmenüberschuss für Obama)
Ohio: + 11 % Clinton
Rhode Islands: + 8 % Clinton
Vermont: +14 % Obama

In der Summe hat Clinton trotz ihrer Siege in dieser NAcht den Rückstand bei den Delegiertenstimmen nicht wesentlich reduziert (vielleicht um 10 Stimmen - wobei sie dann immer noch über 100 Stimmen zurück liegt), hat aber dafür das "Momentum" von Obama gestoppt.

Durch seine bisherige Siegesserie hat Obamas bereits ca. 1400 Stimmen (inkl. Superdelegierte) erobert und Clinton 1280 Stimmen. Heute Nacht werden weitere 370 Delegiertenstimmen verteilt, anschließend steht es zirka Obama 1580 zu Clinton 1470. Bis Anfang Juni sind noch weitere 611 Stimmen zu erobern, zudem sind noch ca. 280 Superdelegierte unentschieden.

Wer mehr insgesamt mehr als 2024 Delegiertenstimmen erobert hat, gewinnt die Nominierung - und sollten sich die Demokraten nicht spätestens bis Ende Mai auf einen Kandidaten verständigt haben, werden sie die Wahl im Jahr 2009 gegen die Republikaner verlieren.

Sollte Clinton heute Nacht verlieren, wird sie voraussichtlich trotzdem weitermachen, es wurde vom der Clintonkampagne bereits angedeutet, dass es auch zu einen Kampf um jene Delegierte kommen könnte, die eigentlich dem anderen Kandidaten zugeordnet sind. Wenn es so kommt, dann wird es im November einen Nominierungsparteitag der Demokraten geben, wo die Fäuste fliegen.

"Change" - auf etwas andere Weise..

Die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario beträgt im Moment ca. 20 Prozent ca. 10 Prozent.

+++ Update 1:53 Uhr +++
In Ohio und Texas läuft es für Obama bessser als von mir erwartet. In Ohio liegen beide Kandidaten zu meiner großen Überraschung etwa gleichauf (Clinton ca. +2 %) und Texas geht mit +5 an Obama. Vermont +20 % + 24 % an Obama. Wenn ich die ersten Anzeichen (exit polls u.ä.) richtig deute.

+++ Update 2:36 Uhr +++
Wenn es so weitergeht, holt Obama Texas mit +8 % oder mehr.
Hillary Clinton ist Vergangenheit - das Rennen ist aus.

+++ Update 3:37 Uhr +++
Alles ganz anders. Gemäß der Exit poll von CNN gibt es in Texas einen Gleichstand bzw. 2% Vorsprung für Clinton. Vermont jetzt + 19 % für Obama. Rhode Island lt. exit poll bei + 5 % für Clinton. Ohio scheint sich aber ganz anders zu entwickeln als die exit polls nahelegen - und deutlich mehr in Richtung meiner Schätzung.

Vielleicht habe ich meine Kristallkugel doch ausreichend poliert.

+++ Update 5.3.2008 - Ergebnisse und Bewertung +++
Texas: + 3,4 % Clinton (allerdings ca. 3 Delegiertenstimmen Vorsprung für Obama)
Ohio: + 10,2 % Clinton
Rhode Islands: + 18,1 % Clinton
Vermont: +21,2 % Obama

Hillary Clinton ist in Delegiertenstimmen gerechnet gestern Abend erstmalig eine Wahlsiegerin. Sie erwirbt von 370 zu verteilenden Delegiertenstimmen insgesamt 189 Stimmen, während Barack Obama 181 Stimmen gewinnt. Gleichzeitig bröckelt ihr Vorsprung an der Superdelegiertenfront - am Wahltag gewann Obama drei weitere Superdelegierte, sodass fünf Delegiertenstimmen die Bilanz ihres "großen" Wahlsieges sind.

Ansonsten stelle ich fest, dass ich mir bzw. meiner Kristallkugel mächtig auf die Schultern klopfen darf.

Bertelsmann Hochschulentwicklung

Wie es sich in der Wirklichkeit verhält, wenn die Bertelsmann-Vorstellungen zur Hochschulentwicklung umgesetzt werden, kann man hier an einem Beispiel präzis studieren. Die Spindoktoren der Bertelsmannstiftung haben in jahrzehntelanger Wühlarbeit erreicht, dass die Hochschuldemokratie vor allem als "Hindernis" gewertet wird. Infolgedessen wurde die Macht der Hochschulpräsidenten - entsprechend konservativer Ideen zur Hochschulbildung - massiv gestärkt.

Tja - dooferweise gibt es über sowas keine angemessene öffentliche Diskussion. Die demokratiefeindlichen Vorstellungen zur Hochschulentwicklung seitens der Bertelsmannstiftung und des HSE werden jedoch immer noch als "Reform" hübschgeschrieben, wo sie doch im Wesentlichen nur der Ausfluss eines genauso parteilichen wie konservativen Gedankenguts sind.

Ich glaube es ist an der Zeit, dass fortschrittliche Kräfte das Etikett "Reform" zurückerobern.

03 März 2008

Gegenwartskultur

Das Netz ist unerforschlich. Während ich zur Vorplanung eines Interviews über Tonia Reeh recherchiere, stolpere ich über das Magazin goon (Magazin zur Gegenwartskultur). Ich bin begeistert.

02 März 2008

Der Bolognaprozess - ein Blick zurück

Bei “Bologna” hat sich das ereignet, was man auch den “Fluch der Bürokratie” nennen könnte: Eine zentrale Bürokratieinstanz entschied für die Wissenschaft in ganz Europa gemäß planwirtschaftlicher Methodik - und begründete diese mit den planwirtschaftlichen Klassiker:

E
s gäbe ein unabweisbares Erfordernis nach europaweiter Einheitlichkeit der Bildungsabschlüsse, zur Schaffung eines (angeblich ansonsten nicht vorhandenen) “gemeinsamen Hochschulraumes“ - und zur Förderung eines problemlosen "europaweiten Studiums".

T
aktisch geschickt wurde dieses - eigentlich irre und unpassende - Anliegen der EU-Bürokratie verwoben mit der Vorstellungen zur Studienzeitreduzierung und verbesserter Praxisorientierung. Kritik am Bolognaprozess wurde als Anliegen linker Minderheiten systematisch marginalisiert.

W
ozu braucht es dann noch eine breite öffentliche Diskussion? Die es m.E., in Teilen jedenfalls, durchaus gab. Es gab jedoch, bei den maßgeblichen hochschulpolitischen Kräften kaum einen ernsthaften - und den Bolognaprozess wirklich hinterfragenden - Diskurs. Wer hochschulpolitisch “rechts” war, fand den Bolognaprozess ganz wunderbar. Und findet ihn immer noch wunderbar, obwohl sich zeigt, dass jetzt deutlich weniger Studierende ins europäische Ausland gehen. Die Planung ging also schief, das Niveau wurde zudem gesenkt, universitäre Freiheitsspielräume wurden planiert. Ähnlich argumentiert Peter Riedlberger in Telepolis.

L
eicht polemisch überzogen könnte man auch sagen: Rechtsgerichtete Hochschulpolitiker mögen Methoden der Planwirtschaft, jedenfalls, solange sie damit ihre Ideen verwirklichen können…

Gleichzeitig ist dieser Hochschul"reform" ein Lehrstück über die Schädigung politischer Diskurse durch Diskriminierung bzw. Nichternstnehmen von Kritik, zu Lasten des Gemeinwohls, sowie ein weiteres Zeichen dafür, dass die EU-Bürokratur inzwischen einen absurd großen Einfluss auf die Lebensverhältnisse in unserem Land hat.

Gedankensprengsel: Wenn man davon ausgeht, dass Geld als Leistungsanreiz wirkt, dann ergibt sich daraus üblicherweise (in angebotsökonomischer bzw. neoliberaler Logik) ein Argument für eine möglichst große Lohndifferenzierung. Es gibt jedoch innerhalb dieses Argumentationszusammenhangs ein starkes Gegenargument, das gegen eine allzu starke gesellschaftliche Lohnspreizung spricht: Nämlich die Erkenntnis eines abnehmenden Grenznutzens. Auf der Ebene der Individuen sinkt die Anreizwirkung des Geldes mit der Lohnhöhe, vereinfacht gesagt haben bei einem Niedriglohnempfänger monatlich 150 Euro deutlich mehr Bedeutung als bei einem Spitzenmanager.

Dieser Umstand hat - wenn man ihn konsequent weiterdenkt - eine enorme Bedeutung, denn er hebelt das Argument mit der "aus Anreizgründen" angeblich notwendigen großen Lohnspreizung aus. Vermutlich könnte man nun ein Modell der optimale Lohnspreizung konstruieren, indem man beide Wirkmuster (die übrigens beide empirisch belegt sind) zusammenfasst, um daraus eine optimale Lohnspreizung abzuleiten. Es gibt also auf der individuellen Ebene zwei monetäre Anreizfaktoren: Erstens der relative Lohnabstand zum sozialen Umfeld. Hier besagt die Empirie, dass bereits relativ kleine Unterschiede (z.B. 20 Prozent) eine relativ große Wirkung haben können. Zweitens der abnehmende Grenznutzen: Der Anreizunterschied nimmt mit dem relativen Mehrverdienst stark ab.

Geht man überdies davon aus, dass (jetzt unabhängig von der jeweiligen Markt- und Tarifsituation gedacht) in einem durchschnittlichen Betrieb fünf bis sechs Lohnstufen zur Konstruktion einer ausreichenden und Anreize schaffenden innerbetrieblichen Lohndifferenzierung ausreichen - und verallgemeinert man diesen Befund (etwas waghalsig - zugegeben) auf die gesellschaftliche Ebene, dann müsste man gesamtgesellschaftlich - reinweg über die Anreizdynamik gedacht - mit ca. 10 Lohnstufen auskommen (z.B. in der Reihung 0,37 - 0,47 - 0,58 - 0,67 - 0,87 - 1- 1,2 - 1,44 - 1,73 - 2,1 - 2,7), wobei sich ein größerer Teil der Arbeitnehmer, hier aus Anreizgründen strategischer Art, im einem mittleren Bereich aufhalten sollte. Die unterste Stufe entspräche dem Existenzminimum. Interessant kann man ggf. finden, dass diese theoretische Reihung der empirischen Lage überraschend gut entspricht, wenn man einmal den Bereich der Spitzengehälter (Definition: oberhalb doppeltes Durchschnittsgehalt) ausblendet.

Lässt man sich auf diese auf Anreizmaximierung gerichtete Argumentation ein, dann lässt sich recht einfach erkennen, dass z.B. die Forderung nach einer größeren Lohn- und Gehälterspreizung in der Gesellschaft (gerne vertreten von sogenannten Neoliberalen) unseriös ist. Eine Erhöhung der Lohndifferenzierung bewirkt immer eine gesellschaftliche Umverteilung - und damit indirekt eine Anreizverminderung derjenigen, die daraus resultierend ökonomisch herabgesetzt werden. Dabei sollte auch bedacht werden, dass genauso eine übertriebene Einebnung von Gehaltsunterschieden kontraproduktiv wirkt.

Weiterhin ist daran zu denken, dass sich Löhne in wettbewerblich gedachten Arbeitsmärkten nicht auf Basis abstrakter Anreizmodellierungen ergeben, sondern vor allem in Hinblick auf Knappheits- und Produktivitätsgesichtspunkte. Das ergibt mitunter einen großen Unterschied.

Im Bereich geistiger Arbeit (z.B. Programmieren) kann es hier eine enorme Differenzierung geben, welche deutlich über das Ausmaß hinaus geht, was sich als "leistungsgerecht" (im Sinne fairer Entlohnung) oder "anreizgerecht" deuten lässt. Anders gesagt, Arbeitsmärkte folgen keinen Gerechtigkeitsüberlegungen, sondern erstens relativen Knappheiten, zweitens den (durchaus als unfair verstehbaren) relativen Unterschieden, die eine Tätigkeit in Hinblick auf die betriebliche Wertschöpfung hat, sowie drittens dem Vorhandensein von gesellschaftlicher und individueller Macht. Insofern wird die Arbeit eines Vermögensverwalters oder Einkäufers auf Arbeitsmärkten - unabhängig von der jeweiligen individuellen Lesitung - regelmäßig höher bewertet werden als z.B. die Arbeit eines Handwerkers oder einer Krankenschwester.

Selbstverständlich sind das hier vor allem theoretische Überlegungen, zumal hier eine Reihe von Randbedingungen zu bedenken sind. Eine große gesellschaftliche Lohnspreizung setzt als notwendige Bedingung vor allem eine reiche Gesellschaft voraus - anderenfalls wird die Lohnspreizung zu einer Form gesellschaftlicher Gewalt, deshalb, weil die hohen und überdurchschnittlichen Löhne auf Kosten der übrigen gehen, was unmittelbar zu Not und gesellschaftlliche Herabsetzung führen wird. Man kann - durchaus stichhaltig - behaupten, dass z.B. das deutsche Wirtschaftswunder ausgeblieben wäre, hätte es damals die Lohnspreizung gegegeben, welche angebotsökonomisch orientierte Neoliberale für ideal halten. Mit anderen Worten, etwas gröber formuliert: Massenverelendung ist keine Wachstumsvoraussetzung, sondern wirkt ganz im Gegenteil depravierend.

Diese "Depraviationswirkung" niedriger Löhne ergibt sich - unabhängig von der ebenfalls bestehenden Wirkung auf das Individuum - auch daraus, dass sich die Qualifizierung von Mitarbeitern (langfristig: Produktivitätserhöhung) im Niedriglohnbereich aus betrieblicher Perspektive weniger lohnt bzw. gehemmt wird. Das ist deshalb der Fall, weil die Mitarbieterqualifizierung im Fall von Niedriglohnbeziehern überproportional teuer wird! Die Einsparungswirkung erhöhter Mitarbeiterproduktivität fällt wegen der Niedriglöhne nämlich vergleichsweise niedrig aus, während die Weiterbildungskosten gemessen am Niedriglohn wiederum überproportional hoch ausfallen. Niedriglöhne haben, sowohl in betrieblicher Hinsicht, wie auch in gesellschaftlicher Hinsicht eine ent-bildende Wirkung.

Wenn von Neoliberalen die angebliche gesellschaftliche Notwendigkeit von Niedrig- und Niedrigstlöhnen postuliert wird, so ist dies meiner Ansicht nach eine unseröse wirtschaftspolitische Idee. Es kann m.E. kein sinnvolles wirtschaftspolitisches Ziel darstellen, das Lohnniveau für weite Bevölkerungskreise abzusenken. Zwar wird behauptet, dass großflächige Lohnsenkungen die allgemeine ökonomische "Wettbewerbsfähigkeit" erhöhen würde, wobei sich die entsprechend argumentierenden Neoliberalen die Gesellschaft bzw. einen Nationalstaat quasi vor allem als Konkurrent zu anderen Staaten denken, und die beste bzw. einzige Konkurrenzoption darin sehen, die allgemeinen Löhne abzusenken.

Dazu sage ich: Ein Unternehmer, der derartig einseitig auf einem Markt auftritt und nur über den Preis zu konkurrieren versucht, ist im Regelfall ein Idiot, der auf lange Sicht hin schwerlich am Markt bestehen wird. Vermutlich hat das einseitig auf Preise bezogene Denken der Neoliberalen auch damit zu tun, dass Qualitätswettbewerb schwieriger zu modellieren ist als eine Preis-Nachfrage-Funktion. Primitives ökonomisches Denken entspricht aber keineswegs den Vorgängen in einem Betrieb bzw. Markt. Ein einzelnes konkretes Beispiel: Mit einer alten Digitalkameratechnologie (z.B. aus dem Jahre 2000) und einem Niedrigstpreis kann kaum ein einziges Produkt verkauft werden.

Wenn die deutsche Ökonomie vor allem als technologieorientiert begriffen wird - zumal in den Exportbereichen - dann sollte dies verdeutlichen, dass für unser Land vor allem die Qualität und Ausbildung des Arbeitnehmerfundus zählt - und weniger die von neoliberalen Rüpeln herbeifantasierte angebliche Notwendigkeit von Niedriglohn. Überdies ist ein gewisser Abstand vom Existenzminimum im Regelfall notwendig, damit ein Unternehmer loyale und leistungsbereite Arbeitnehmer hat.

Weiterhin sollte man bedenken, dass eine Gesellschaft mehr ist als eine ökonomische Konstruktion zur Durchsetzung anreizoptimaler Verhältnisse. Ein soziales gesellschaftliches Miteinander (z.B. auch in kultureller Hinsicht) setzt voraus, dass möglichst große Teile der Gesellschaft auf einem normalen Level gesellschaftlich partizipieren können, und das setzt wiederum eine gewisse Ähnlichkeit in den jeweiligen Konsummöglichkeiten voraus. Es ist z.B. bekannt, dass Bezieher von Niedriglöhnen (Definition: unterhalb 60% Durchschittslohn) vom kulturellen und gesellschaftlichen Leben zunehmend ausgegrenzt sind. Ich meine - das ist natürlich keine ökonomische Argumentation -, dass eine Gesellschaft zunehmend illegitime Züge aufweist, wenn hier ein großer der Teil der Menschen ökonmisch ausgegrenzt ist.

Ein letzter Aspekt, den ich hier noch aufschreiben wollte: Vermachtete Arbeitsmärkte (Beispiel: Manager können ihre Gehälter selbst festlegen) folgen mitnichten einer Leistungs- oder Marktlogik. Die übertriebenen Gehälter für Spitzenmanager haben nicht damit zu tun, dass es so unglaublich schwer wäre, einen guten Manager zu finden und anzuheuern, sondern sie reflektieren in erster Linie ihre Machtposition.

Und eben keine ökonomischen Notwendigkeiten. Wenn zunehmende Teile der Jahresgewinne von Aktiengesellschaften (zur Zeit ca. 5%, Tendenz steigend, in Ausnahmefällen teils schon 15%) für die obersten Managerschichten aufgewandt werden, und zwar für Löhne, die aufgrund ihrer überzogenen Höhe kaum noch eine Anreizwirkung entfalten, dann ist dies - aus ökonomischer Sicht - ebenso unerfreulich wie z.B. übertriebene Steuersätze. Viele deutsche Aktiengesellschaften befinden sich heute in einer Situation, wo sie mehr davon hätten, wenn sie die Spitzengehälter glatt halbieren würden - um mit den frei werdenden Mitteln ihre Mitarbeiter zu qualifizieren.

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